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Shalom (Fichman) Eitan


Überleben und Berichten




Autobiographie




Inhalt



Vorwort
Widmung
Lipcani
Meine Eltern und Verwandten
Meine Kindheit
Meine Tage in Lipcani
Die sowjetische Besetzung Bessarabiens
Die Wanderung
Der Blitzkrieg
Pogrom und Massaker von Boian
Chernowitz
Das Ghetto von Chernowitz
Deportation nach Transnistria
Otaki
Transnistria
Das Ghetto von Moghilev
Nach der Chanukka-Feier
Dinas Krankheit
Das Telegramm aus Eretz-Israel
Romanze im Ghetto
Die Deutschen treten den Rückzug an
Die Sowjetarmee, unsere Befreier
Wieder unter Sowjetherrschaft
Rückkehr nach Boian
Rumänien – der erste Schritt zur Aliya
Dorohoi – der erste Aufenthalt in Rumänien
Bukarest
Zurück in die Schule in der „Cultura”
Der Kibbuz „Ha-Ratzon”
Aliya, auf dem Weg nach Eretz-Israel
Zypern, ein britisches „Gefangenen”-Flüchtlingslager
„Shurot Hameginim” – Die Hagana
Von Zypern nach Israel – Endlich!
Israel – Der Unabhängigkeitskrieg
Bei der Artillerie
Kommandant eines 20-mm-Panzerabwehrraketenkommandos
Verwundet in der Schlacht
Meine erste Romanze
Auf der Totenliste, aber lebendig
Der Radartechnikerkurs
Der Artillerieoffizierskurs
Anhänge
Chronologische Abfolge i
Chernowitz ii
Bessarabien iii
Bukowina iv
Landkarten v
Ansicht des „Goldener Barg” vi
Antisemitismus vii

((Text for back cover))
Meine Familie und ich, ein elfjähriges Kind, hatten in schweren Zeiten die Gefahr des Verhungerns, der Krankheit und selbst der Ermordung erlebt. Diese schrecklichen Ereignisse waren Anlass für uns, zu schwören, dass wenigstens einer von uns überleben und berichten müsste. Wir haben alle überlebt, und jetzt, nach 50 Jahren in Israel, habe ich beschlossen, die Geschichte zu erzählen, wie ich sie erinnere, bevor es dafür zu spät ist.

Die englische Fassung dieses Buches erfasst die Zeit von meiner Geburt bis zum Abschluss meiner Ausbildung an der Israeli Defence Force-Artillerieschule im Jahre 1950 als Oberleutnant. Sie beginnt in Lipcani, einem Schtetl in Bessarabien, berichtet von der sowjetischen Besatzung, der deutschen Invasion, dem Pogrom in Boian und dem Beginn des Umherziehens und der Deportationen, von den Ghettos Chernowitz und Mogilev, der Rückkehr nach Boian, der Flucht nach Rumänien, von illegaler Emigration, Gefangenschaft in Zypern und vom Kämpfer im Unabhängigkeitskrieg. Der Inhalt dieses Buches beruht allein auf meiner Erinnerung, meinen persönlichen Erfahrungen und auf Eindrücken aus verschiedenen Ereignissen. Weil ich aber auch den Erzählungen meiner Eltern und Verwandten zugehört habe, bin ich vielleicht auch von diesen beeinflusst. Heute kann ich sie nicht mehr von meinen eigenen Erinnerungen trennen.

Ich habe eine hebräische Fassung dieses Buches geschrieben und an Freunde und Verwandte verteilt; sie ist ausführlicher und umfasst auch meine 32 Jahre Militärdienst, aus dem ich im April 1980 als Oberst ausschied.




Vorwort

Dieses Buch erzählt in chronologischer Folge von den erinnerungswürdigsten Ereignissen meines Lebens, den angenehmen und den anderen. Es ist keine farbige Erzählung und auch nicht so lebendig wie das frische Erleben, weil es erst heute niedergeschrieben wird, basierend auf den Erinnerungen eines 65 Jahre alten Mannes.

Diese Erinnerungen setzen sich zusammen aus persönlichen Erfahrungen, aber auch aus Geschichten und Anekdoten, die ich von meinen Eltern und anderen Verwandten gehört habe.

Ich schreibe es auf, weil unser Familienschwur in meinen reiferen Jahren immer mehr Bedeutung gewann. Auslöser jedoch ist die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse, die wir alle erlebt haben, und in denen uns der Tod als unmittelbares Schicksal immer nahe war. Die Rede ist natürlich von der Zeit, die heute unter dem Begriff Holocaust bekannt ist. Dieser führte dazu, dass wir einen Schwur ablegten, der sich auf die Formel „Überleben und Berichten” bringen lässt. So entstand der Titel dieses Buches. Es ist also eine Geschichte, die in der ganzen Welt bekannt ist und es hoffentlich auch bleiben wird. In meinem Buch berichte ich von dem Verhalten unserer Mitmenschen, der von bösartiger antisemitischer Propaganda beherrschten örtlichen Bevölkerung; von den selbst ernannten „Eroberern” des deutschen Naziregimes; vom rumänischen Antonescu-Regime und vom Ende der sowjetischen Besatzung Bessarabiens.

Die Zeitspanne reicht von meiner Geburt im Jahre 1930 bis ins Jahr 1950, als ich die Artillerie-Offiziersschule als Oberleutnant verließ.

Eine ausführlichere Fassung, in hebräischer Sprache geschrieben, bietet eine umfassendere Beschreibung meiner 45 Jahre in Israel, wo ich die Militärlaufbahn einschlug und 32 Jahre in den Streitkräften diente – vom Unabhängigkeitskrieg im Jahre 1948 bis zu meinem Ausscheiden im April 1980. Danach war ich weitere 15 Jahre in der israelischen High-Tech-Industrie beschäftigt.


Inhalt



Widmung

Es scheint mir angemessen, dieses kleine Werk dem Gedächtnis meiner Verwandten und Freunde zu widmen, die während des Zweiten Weltkriegs umkamen – Opfer von Ereignissen, die von den Nazis und ihren Anhängern initiiert und auf brutalste Weise durchgeführt wurden. Ich wünsche mir sehr, dass diese Zeilen von möglichst vielen Menschen gelesen werden, vor allem aus der jüngeren Generation, die keine persönliche Kenntnis der zahlreichen Facetten des Holocausts haben. Ich wünsche mir, dass sie das Anliegen weiter tragen, „niemals zu vergessen”, was dem jüdischen Volk während der Ära des Faschismus/Nationalsozialismus und in kaum geringerem Maße unter Stalins despotisch-kommunistischem Regime widerfahren ist. Es wäre ein angemessenes Denkmal für alle, die Verfolgung, Hunger und tödliche Krankheiten erlitten haben.


Inhalt



Lipcani

Die kleine bessarabische Stadt liegt am Ufer der Prut, an der Grenze zwischen Bessarabien und Rumänien. In Lipcani lebten hauptsächlich jüdische Einwohner, dazwischen jedoch einige Nichtjuden. Bis 1918 hatte die Stadt zur UdSSR gehört. Dann unterstellten die damaligen Alliierten sie der rumänischen Herrschaft, als Gegenleistung dafür, dass sich Rumänien schließlich ihnen angeschlossen hatte. In ähnlicher Weise wurde Bukowina dem besiegten österreich-ungarischen Reich abgenommen. Weiterhin erhielt Rumänien Dobrogea von Bulgarien sowie Transsylvanien und einen Teil des Banats von Ungarn. Bessarabien blieb bis 1940 rumänisch, dann fiel das Gebiet durch das Molotov-Ribbentrop-Abkommen wieder an die Sowjetunion.

Weitere Veränderungen fanden im Jahre 1941 statt, als die Deutschen, die Bessarabien erobert hatten, es an Rumänien zurückgaben. 1944 wurde das Gebiet „befreit” und blieb dann bis heute ein Teil der Republik Moldawien, die früher zur UdSSR gehörte, aber nach dem Zerfall der Sowjetunion zur unabhängigen Republik wurde.


Inhalt



Meine Eltern und Verwandten

Wir lebten in einem neueren Teil der Stadt, der in jiddischer Sprache als „Der Goldener Barg” bekannt war – vermutlich, weil dort viele der wohlhabenderen Einwohner lebten. Das soll nicht heißen, dass es dort keine Armut gab, denn auch unter den Wohlhabenden gab es durchaus einige arme Familien.

Mein Vater Nachman Fichman stammte aus einer großen Familie mit acht Söhnen und zwei Töchtern. Schon als kleiner Junge arbeitete er zusammen mit meinem Großvater Ya'akov Yehuda (Leib) Hacohen Fichman in Viishoara, dem kleinen Dorf, in dem er geboren wurde. Er betrieb damals einen Art Eier-Transportdienst, holte die Eier von den örtlichen Bauern ab, kümmerte sich um die Verpackung und den Weitertransport und Verkauf in den größeren Städten.

Großvater Ya'akov Yehuda (Leib) Hacohen Fichman war Müller. Mit seinen Söhnen betrieb er eine eigene Mühle, in der sie alle Arbeiten allein ausführten. Außerdem war er Eigentümer des einzigen Gemischtwarenladens der Stadt, der von meiner Großmutter Fruma (Schechter) Fichman geführt wurde. Beide Geschäfte hatten einen Einzugsbereich von etwa 10 Kilometern Radius.

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte mein Vater das wehrfähige Alter erreicht und folgte seiner Einberufung. Er wurde dem Fünften simbirskischen Füsilierregiment zugeordnet, das hauptsächlich aus jungen Männern aus Sibirien bestand.

Obwohl er in der Familie als Nachman bekannt war und in der Musterrolle mit seinem vollen Namen Chaim Nachman geführt wurde, nannten seine Kameraden ihn meist liebevoll Chaimko. Vielleicht wählten sie diese Verniedlichungsform, weil er kleiner war als sie – doch sie selbst waren auch nicht die größten.

Während seines Militärdienstes wurde er auch im Gebiet von Riga eingesetzt. Hier wurde er mit einem Orden Dritten Ranges ausgezeichnet, nachdem er eine „Zunge” gefangen genommen hatte – einen Gefangenen, der vom Geheimdienst verhört werden konnte. Unglücklicherweise wurde er verwundet. Er wurde aus dem Gebiet evakuiert und erholte sich in einem Militärkrankenhaus. Danach wurde er als Invalide aus dem Militärdienst entlassen. So kehrte er nach Hause zurück, um seinen Vater und seinen Brüdern bei der Arbeit in der Mühle zu helfen.

Seine frühe Erziehung genoss mein Vater in seinem Geburtsdorf. Hauptsächlich aber übernahm Dov (Berl) Sofer seine Erziehung. Sofer war zugleich der „Schochet” (ritueller Schlachter) für das gesamte Gebiet. Weil Sofer in Corjeutz lebte, zog mein Vater zu ihm. Im Geburtsdorf meines Vaters hatte es nur zwei jüdische Familien gegeben, die aus den Familien meines Großvaters und seiner Schwester bestanden. In Corjeutz wohnten mehr Juden, darum gab es dort auch einen hauptamtlichen Schochet und eine Synagoge. Im Hause des Schochet lernte mein Vater Dovs Tochter Chaya (Sofer) Fichman kennen, die später seine Frau wurde.

Ein anderer reisender Schochet besuchte das Dorf nur selten. Und da die Synagoge an dem anderen Ufer der Prut stand, musste man diesen, entweder mit einem Boot oder einem Floß überqueren, das an einem der an beiden Ufern befestigten Seilen hing und während der Trauerzeit „Tischa Be Aw” benutzt wurde, ebenso auch, wenn die Dienste des Schochet benötigt wurden.

Meine Mutter wurde schon in frühen Jahren zur Waise. Ihre Mutter Dvora (Spectorman) starb als sehr junge Frau an Leukämie, was meine Mutter über viele Jahre schwer belastete. Mütterlicherseits hatte sie nur einen Bruder, Vovic (Ze'ev).

Nach ihrer Hochzeit zogen meine Eltern in das Dorf Terebena, wo mein Vater eine Getreidemühle erwarb und betrieb. Dort kam meine Schwester Dvora zur Welt, benannt nach meiner Großmutter, die ich nie kennen gelernt hatte.

Als sie alt genug waren, wurden zwei Brüder meines Vaters zu seinen Partnern. Mein Großvater kaufte in Lipcani eine zweite Mühle, die sie betreiben sollten. Vater war der Chef, Moshe der Mechaniker und Eliezer der Müller. Jeder der drei wusste alles über die Mühle, und so waren sie in der Lage, alle Arbeiten daran selbst auszuführen – den Betrieb, die Wartung und die Reparaturen.

Das Geschäft blühte und die Familien wuchsen. Mein Bruder David beispielsweise wurde zwei Jahre nach Dvora geboren, und Onkel Moshes Frau brachte fünf Jahre später ihre Tochter Rachel zur Welt.


Inhalt



Meine Kindheit

Ich wurde im November 1930 geboren, einen Monat vor meinem Cousin Avraham. Avrahams Eltern waren Moshe und Olea. Wenige Jahre später bekamen wir einen weiteren Cousin, dessen Eltern Eliezer und Leah waren. Im Anhang sind die Namen weiterer Onkel und Tanten aufgeführt (es gab viele von ihnen) und was ihnen widerfuhr.

Meine frühesten Erinnerungen reichen zurück in mein drittes und viertes Lebensjahr, und sie sind nur lückenhaft. Im Grunde muss ich mich auf das verlassen, was meine Eltern und Verwandten mir über diese Zeit erzählt haben. Es scheint, dass ich kein Genie war (im Gegensatz zu meinen Enkeln), doch offenbar ein lustiges und fröhliches Kind, das leicht Freundschaften schloss. Man erzählt, ich hätte Schwierigkeiten gehabt, den Buchstaben R auszusprechen und stattdessen, ähnlich den Japanern, eher einen L-Laut von mir gegeben.

Ich erinnere mich an den Kindergarten und daran, dass ich die Spiele und die hebräischen Lieder mochte. Wir liebten unsere Lehrerin und wetteiferten um ihre Aufmerksamkeit. Sie war eine liebevolle Frau und fesselte uns mit ihren Geschichten, von denen so viele von Eretz-Israel handelten. In unserer Stadt wurde das Hebräische außerordentlich gepflegt, was sicherlich der starken und aktiven zionistischen Bewegung zu verdanken ist. Daher gab es eine Tarbut (Kultur), eine hebräische Schule.

Unser Haus am „Goldener Barg” lag abseits des Stadtzentrums. Für mich bedeutete dies, dass ich zum Kindergarten und später zur Schule, zu den Geschäften und den kulturellen Zentren weite Wege zurücklegen musste. Um in den Kindergarten zu gelangen, musste ich den Friedhof überqueren, dann einen älteren Teil der Stadt, an dessen Rand er früher gelegen hatte. Gänse liefen dort frei herum, und ich fürchtete mich vor ihnen. Andererseits ließ unser Kindergarten kaum Wünsche offen. Er war ähnlich ausgestattet wie eine moderne Einrichtung. Im Winter, vor allem bei regnerischem Wetter, war er wirklich einladend. Wir spielten mit unseren Spielsachen, lernten Lieder und Gedichte und begingen unsere jüdischen Feiertage – alles in hebräischer Sprache. Wir lebten wirklich nahe am Puls der hebräischen Kultur, die sich in „Eretz-Israel” entwickelte.

Rückblickend glaube ich, dass unsere jüdische Gemeinde in Lipcani ihre Zeit in der Diaspora nur als vorübergehenden Zustand betrachtete und dessen Dauer in Jahrzehnten statt in Jahrhunderten maß. Der Einfluss der zionistischen Bewegung war stark und viele junge Menschen emigrierten in unser Land Israel.


Inhalt



Meine Tage in Lipcani

Zu dieser Zeit genossen Juden mit wenigen Ausnahmen ihre Ausbildung im hebräischen Schulsystem, das in ganz Europa vertreten war. Folglich war unsere Hauptsprache Hebräisch. Die Landessprache Rumänisch war nur die Zweitsprache, die allerdings vorgeschrieben war. Unter uns und zu Hause sprachen wir nur Jiddisch oder Russisch, denn das war die einzige Sprache, die unsere Haushälterin verstand. Russisch war die Sprache der Intelligenzia und der Katsapen, einer Volksgruppe, die damals in Bessarabien lebte. Ich war damals in die erste Klasse der Tarbut gekommen, von der schon früher die Rede war.

Viele, wenn auch nicht alle, richteten sich nach dem Kaschrut (dem Reinheitsgebot für Speisen) und respektierten die jüdischen Gesetze und Traditionen. Solche Überzeugungen beeinflussten unsere Lebensweise. Ich erinnere mich, dass ich durchaus ein gesundes Kind war. Als es mir einmal schlecht ging und ich an einem Schabbat vom Bahnhof nach Hause zurück kehrte, bestand ich darauf, dass meine Mutter das Verdeck schloss, damit meine Freunde mich nicht für einen Schabbes Goy (am Schabbat arbeitender Nicht-Jude) hielten. Im Zusammenhang mit meiner Gesundheit erinnere ich mich, dass ich gelegentlich über Bauchschmerzen klagte – vielleicht als Ausrede, um nicht essen zu müssen. Einmal erkrankte ich an Typhus, gefolgt von einem Hautausschlag, den man darauf zurückführte, dass ich mit Katzen gespielt hatte. Ich kam in ein Krankenhaus, das von Nonnen geführt wurde. Der Hautausschlag war äußerst unangenehm und die Behandlung noch schlimmer als die Krankheit selbst (Ein Paradebeispiel für einen „Oy veh”-Zustand.) Da mir die Haare ausfielen, machte dies die notwendige Behandlung einfacher: nämlich eine Enthaarung des Schädels, für die eine Wachs-Paraffin-Lösung aufgetragen wurde – ganz ähnlich, wie es die Damen machen, wenn sie die Haare von ihren Beinen entfernen. Aber das war noch nicht alles. Auch Bäder und die Anwendung einer speziellen Tinktur waren verordnet worden. Besonders schlimm und verletzend waren die neckenden Fragen meiner Tante Olea, wo denn meine Haare seien. Sie war, wie man sich erinnern wird, die Mutter meiner Cousins Avraham, Rachel und Dodik. Auch meine Cousins und meine Freunde lachten und neckten mich wegen meiner Glatze, aber das machte mir weniger aus. Ich hatte auch Probleme mit den Zähnen und wurde von Dr. Havis behandelt, dem einzigen Zahnarzt der Stadt. Die Angst vor seinen Maschinen und den schrecklichen Geräuschen der Bohrer verfolgten mich noch viele Jahre, bis ich 25 Jahre alt war.

An die Sommerferien erinnere ich mich besonders gut. Es gab so viel zu erleben. Auf unseren Ausflügen nach Viishoara wurden wir von unseren Großeltern und von Vaters Brüdern verwöhnt. Großmutter bereitete sprudelnde, süße Limonade für uns alle zu, Großvater machte Eis. Das war etwas ganz Besonderes. Im Winter hatte er Eis aus dem zugefrorenen Fluss gebrochen und es in einer flachen Grube gelagert, die mit Heu abgedeckt war (eine bemerkenswert effektive Isolierung.) Dort blieb es den ganzen Sommer über.

Wir fanden die örtlichen, nichtjüdischen Kinder in ihrer Landestracht lächerlich, vielleicht, weil unsere Kleidung recht europäisch war. Ein besonders Erlebnis war eine Fahrt auf Onkels Dreschmaschine zu den Orten, an denen er seine Dienste anbot. Seine Kunden, die Bauern, häuften das geerntete Getreide neben dem Hof auf, und die Aufgabe des Onkels war es, den Weizen von der Spreu zu trennen. Organisierte Kooperativen gab es nicht, aber der Geist der gegenseitigen Hilfe war stark. In Gruppen zogen die Arbeitskräfte von einem Hof zum nächsten, bis auch auf dem letzten die Vorbereitungen für den Winter abgeschlossen waren. Geld wechselte dabei nicht den Besitzer. Die Bezahlung erfolgte in Form eines Anteils am gedroschenen Weizen. Dieser wurde gemahlen und dann als Mehl an die Bäckereien verkauft.

Dann waren da die Besuche am Prut. Weil wir keine sicheren Schwimmer waren, mussten wir uns damit begnügen, den einheimischen nichtjüdischen Jugendlichen, die wir schkuzim (Abscheuliche) nannten, zuzusehen. Sie schwammen wie die Fische. Großvater allerdings konnte nicht nur schwimmen, er konnte sogar den Fluss in aufrechter Haltung schwimmend durchqueren und dabei seine Kleider in der Hand tragen.

Es gab auch noch andere Ferienvergnügungen, die mit unseren jüdischen Feiertagen zu tun hatten. Ich erinnere mich beispielsweise an einen Ausflug in die Außenbezirke von Lipcani an Lag Ba-Omer, dem Gedenktag an den im Jahre 135 n.u.Z. von den Römern niedergeschlagenen Bar Kochba-Aufstand. Ich war sehr beeindruckt und fühlte mich frei und unabhängig, denn wir taten so, als lebten wir in unserem eigenen Land. Wir hatten unsere Lektion gelernt, und in Anknüpfung an den Sieg der Revolte lieferten wir uns Gefechte mit selbst gebauten Pfeilen und Bögen. Ich war begeistert und freute mich schon auf das nächste Jahr.

Wir spielten Fußball mit einem Ball aus Lumpen, bis wir eines Tages einen richtigen Ball bekamen. Weil der Ball mir und meinen Cousins gehörte, nutzten wir unsere Macht als Besitzer aus, diktierten gelegentlich die Regeln des Spiels und suchten für unsere Mannschaften Spieler aus, die uns den Sieg sicherten. Im Frühling ließen wir Papierschiffchen in Pfützen aus geschmolzenem Schnee schwimmen und hatten viel Spaß dabei, dem rollenden Reifen nachzulaufen. Jede Jahreszeit hatte ihre besonderen Spiele, die meisten waren Wettkämpfe und alle machten uns großen Spaß. Wir waren alles andere als träge. Bei jedem Wetter verbrachten wir Stunden und Stunden im Freien, vermutlich, weil unsere Spiele sich für geschlossene Räume einfach nicht eigneten.

Außerdem wurden wir auch nicht ermutigt, im Hause zu bleiben – außer zum Essen, für die Hausaufgaben und zum Schlafen. Im Zusammenhang mit dem Essen will ich erwähnen, dass mein Vater zu den Mahlzeiten selten zu Hause war, weil er fast immer arbeitete. Mahlzeiten mit der ganzen Familie gab es darum nur an hohen Feiertagen und zu anderen besonderen Gelegenheiten. Jede Jahreszeit hatte ihre speziellen Ereignisse, und ich erinnere mich an meine Begeisterung für das Chanukka-Fest. Es war ein besonderer Tag in der Schule. Für die Feier wurden sogar extra Räumlichkeiten gemietet, das Gershenson-Theater. Ich wurde ausgewählt, die Chanukka-Kerzen anzuzünden und den Segen zu rezitieren. Alle Sitzplätze waren besetzt, viele mussten stehen. Die Luft reichte kaum zum Atmen und auch das Anzünden der Streichhölzer war schwierig. Es hatte viele Proben gegeben und ich war enorm stolz, dass man mich wegen meiner schönen Stimme ausgewählt hatte. Man stelle sich vor, 1988 erzählten mir zwei ehemalige Klassenkameraden, die von der UdSSR nach Israel eingewandert waren, dass in Wahrheit das Geld meines Vaters den Ausschlag für die Wahl gegeben hatte. Damit endete der Mythos von meiner „schönen Stimme.”

Zu Hause gab es Diskussionen über Pogrome und Plünderungen. Ich spürte in meinem Herzen immer eine Angst, dass etwas geschehen würde. Und obwohl nichts kam, wurde es doch stets erwartet. Darüber, dass die UdSSR Bessarabien übernahm, wurde niemals geredet. Wir sprachen darüber, dass die Juden Rechte besaßen und dass die rumänischen Behörden, wenngleich sie auch antisemitisch waren, uns die Freiheit von Handel und Geschäften eingeräumt hatten.

Wir hatten Sorgen, aber keine reale, dauerhafte Furcht. Obwohl der Druck der von Deutschland beeinflussten Regierung stärker wurde, lebten wir nicht in Angst. Eine neue Vorschrift wurde erlassen, dass keine Firma, kein Geschäft oder Unternehmen einen jüdischen Namen führen durfte. Das ließ sich durch fiktive Verbindungen mit nichtjüdischen Geschäftspartnern leicht umgehen. Die Atmosphäre wurde Jahr für Jahr gespannter, doch Angst beherrschte unser Leben nicht.

Mein Onkel Matityahu, der in den 1920-er Jahren nach Palästina ausgewandert war, wusste es besser. Er bombardierte uns mit Briefen und Telegrammen, in denen er uns drängte, alles zu verkaufen, Rumänien zu verlassen und uns in Palästina anzusiedeln. Zumindest sollten wir dort Grundbesitz erwerben, weil ťschwarze Wolken über Europa aufzogenŤ und die Tage der relativen Freiheit bald ein Ende haben würden. Mein Vater und viele seiner Freunde und Bekannten, die vermutlich ähnliche Warnungen von ihren Verwandten erhalten hatten, ignorierten die Hinweise oder zögerten zu handeln. Es ist immer schwierig, eine neue Situation zu erfassen und zu akzeptieren, vor allem, wenn sie die Stabilität verändert.

Trotz der Warnungen und der von den Behörden erlassenen antisemitischen Einschränkungen baute mein Vater sein Geschäft weiter aus. Er wollte sein Einzugsgebiet vergrößern und weitere Niederlassungen eröffnen. Gerade war er im Begriff, eine große, moderne Mühle in Chernowitz, der nächst größeren Stadt im Umkreis von Lipcani anzuschaffen. Er plante, später mit uns dorthin umzuziehen.


Inhalt



Die sowjetische Besetzung Bessarabiens

In Europa stieg die Spannung. Deutschland besetzte das Ruhrgebiet, setzte den „Anschluss” Österreichs durch, annektierte die Tschechoslowakei und griff Polen an.

Durch das Molotow-Ribbentrop-Abkommen wurden Polen und Teile Rumäniens geteilt. Bessarabien und die nördliche Bukowina fielen an die Sowjetunion. Von einer Minute zur anderen waren wir plötzlich unerwünscht oder – noch schlimmer – Feinde des kommunistischen Regimes. In einem Land, das Freiheit und Gleichheit für alle proklamierte, wurde mein Vater, der Mühlenbesitzer, von den Behörden plötzlich als gefährlich angesehen. Die sowjetische Regierung hatte für Geschäftsleute wie meinen Vater ein besonderes Wort: ťBourgeoisieŤ. Das Französische Wort bezeichnet eigentlich Menschen der Mittelklasse. Die Kommunisten dagegen definierten die Bourgeoisie als eine Klasse, die das Proletariat ausbeutete. Als die Sowjets in die Stadt einzogen, erlebte ich, wie die Welt meines Vaters zusammenbrach. Er war immer ein Mann ausgezeichneter Gesundheit gewesen, jetzt litt er an Nervosität und Nierensteinen. Seine Welt lag rings um ihn in Trümmern.

Aus der abgeschotteten UdSSR erhielten wir Informationen über die sich dort abspielenden Ereignisse, insbesondere darüber, was den dortigen Wohlhabenden zustieß. Unter den wohlhabenden Gemeindemitgliedern von Lipcani breitete sich eine traurige Atmosphäre aus, die das ganze Lebensgefühl veränderte. Mein Vater und seine Bekannten erkannten damals, dass es ein großer Fehler gewesen war, nicht auf die Warnungen der Verwandten aus dem Ausland zu hören.

Einige von uns lasen Zeitung, hörten Radio, erhielten Briefe von Verwandten in Palästina und anderen Teilen der freien Welt, die unmissverständlich zeigten, welche Gefahr langsam auf uns zukam. Einige achteten aber noch immer nicht auf den Lauf der Ereignisse. Trotz alledem genoss ich die starke Aktivität, die sich in unserer verschlafenen Stadt ausbreitete und mir große Möglichkeiten zu präsentieren schien. Aus allen Teilen des Landes trafen Menschen ein, in Panzern, die ich zum ersten Mal sah und die mich zutiefst beeindruckten. Autos und Lastwagen fuhren durch die trockenen Teile der Stadt. Auf den Plätzen und Straßen wurde getanzt und gesungen.

Die Einwohner von Lipcani, die Reichen ausgenommen, erlebten eine glückliche Zeit, doch sie sollten bald erkennen, dass es nur eine vorübergehende Illusion war. Lokale, die früher geschlossen waren, öffneten wieder. Ganz Lipcani gehörte dem Paritz (Gutsherr), einem Adligen, der Land verpachtete, auf dem Häuser gebaut wurden. Dieser Adlige lebte am Rand der Stadt. Sein Palast und seine Ländereien wurden nun in öffentliche Gärten umfunktioniert, die ich einmal besuchte und gebührlich bestaunte. Mein beschütztes Leben wurde freier. Mein Bruder und meine Schwester kamen in den Sommerferien aus Chernowitz nach Hause und begannen, über die Arbeit zu reden, denn der Leitspruch der Kommunisten lautete ťWer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.” Die Mühlenarbeiter verhielten sich wie immer und baten meinen Vater, die Mühle weiterzuführen, jedoch nicht als Besitzer. „Schlafende” Kommunisten aus der jüdischen Gemeinde kamen, um die Schlüssel in Empfang zu nehmen; sie verlangten die Pferde, das Land, und natürlich das Geld.

Meine Kindheit veränderte sich völlig, und mein Lebensweg, der vermutlich von meinen Eltern von Grund auf durchgeplant gewesen war, nahm nun einen völlig anderen Verlauf. Meine Freude über diese neue Situation war jedoch kurzlebig. Die gesamte Weltgeschichte änderte ihren Lauf. Jene, die aggressive Ziele verfolgten, bedrohten die großen Demokratien und erreichten ihr Ziel ohne viel Gegenwehr. Die großen demokratischen Mächte, die Sieger des „Großen Krieges”, beschränkten sich lediglich darauf, zu protestieren.


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Die Wanderung

Wie sich in der folgenden Zeit herausstellte, konnten wir uns noch glücklich schätzen, denn die Sowjets, unsere Eroberer, legten einen bizarren Wechselkurs für den rumänischen Leu fest. Zu diesem Wechselkurs konnte man ein Radio für zwei Dollar kaufen, während der wahre Wert etwa fünfzig bis hundert Dollar betrug.

Ein sowjetischer Hauptmann, ein Jude, kam zu uns, um „Schnäppchen” einzukaufen. Er kaufte alles, was er sah und bezahlte den Preis in Rubeln. Aufgrund des Wechselkurses jedoch hatte er uns in Wirklichkeit auf höchst elegante Weise bestohlen, wie wir einige Monate später entdeckten.

Von wirklichem Wert war ein Rat, den wir von ihm bekamen; dafür werden wir uns seiner in ewiger Dankbarkeit erinnern.

Er erklärte uns, dass er aufgrund des Wohlstands, den er in unserem Hause sah, annahm, dass wir sehr reich seien, und dass dieser Wohlstand es für uns sehr gefährlich machen würde, an einem Ort zu bleiben, wo man uns kannte. Er riet uns, sofort die Stadt zu verlassen und an einen anderen Ort zu ziehen, besser noch in eine andere Republik, wo niemand uns und unsere kapitalistische Herkunft kannte.

Trotz der Schwierigkeiten, die es uns bereitete, unser Haus, Besitztümer und Freunde sowie den Ort, in dem wir aufgewachsen waren, zu verlassen und an einen Ort zu ziehen, wo wir niemanden kannten, beschloss mein Vater, sofort aufzubrechen.

Seine Brüder und Partner in der Mühle fassten denselben Entschluss. Wir zogen in ein Dorf namens Boian in der nördlichen Bukowina. Die anderen zogen in andere Dörfer.

Meine Schwester fand eine Anstellung als Grundschullehrerin in Larga bei Lipcani. Mein Bruder setzte sein Studium in Lipcani fort und blieb bei unserem Onkel Vovic, dessen wirtschaftliche Verhältnisse nach dem Maßstab der UdSSR keine Gefahr für ihn bedeuteten.

Mein Vater arbeitete als Buchhalter in der Mehlfabrik des Dorfes, wodurch er zumindest weiterhin mit Weizen und Mehl, das er liebte und mit dem er sich auskannte, in Berührung kam. Meine Mutter verstand die Situation, und obschon es für sie schwieriger war, passte sie sich doch schnell der Lage an. Das Leben hatte ihr nicht viel Komfort, Zufriedenheit oder andere Freuden zu bieten. Sie arbeitete stets sehr hart und erhielt nur selten Dank oder Anerkennung für ihr gutes Herz und ihre liebevolle und rücksichtsvolle Art; sie war stets bereit, alles für die Gemeinschaft zu geben und für jene, die ärmer waren und weniger Glück im Leben hatten.

Ich weiß nicht, in welcher Weise diese Veränderungen meinen Bruder und meine Schwester zu schaffen machten. Wir hatten nie Gelegenheit oder Lust, darüber zu sprechen; nicht damals und auch nicht später. Ich durchlebte eine schwierige Phase der Anpassung in dem Dorf; alles war so anders dort. Ich musste die ukrainische Sprache erlernen und meistern, die offizielle Sprache der Republik. Ich musste neue Freunde finden, die zumeist Nichtjuden waren und ihre Nationaltracht trugen. Sogar mein Name wurde geändert; soweit ich mich erinnern kann, war mein Name Sioma, eine gebräuchliche Verniedlichung von Schalom oder Schlomo. Mein offizieller jüdischer Name ist Schalom. In meinem neuen Dorf nannte man mich, wie es in meiner Geburtsurkunde geschrieben stand, oder in einem ukrainischen Dialekt lautete: Schulim. Sie hatten niemals von dem Schriftsteller Shalom Aleichem gehört, denn wenn dies der Fall gewesen wäre, hätten sie mich zumindest „Schalom” gerufen statt Schulim, was mich ärgerte. Das Klassenzimmer, in das ich kam, fasste zweimal soviel Schüler wie meine frühere Klasse.

Die Kinder trugen die Landestracht, die aus Schafsfellen gemacht war, seltsame Jacken und Schuhe namens Opinc (eine Art Mokassin, jedoch aus Rohleder). Das ungegerbte Leder sowohl der Felle als auch der Schuhe gaben einen Geruch ab, der durch das starke Furzen, das durch das ungewohnte, wenn nicht sogar ungenießbare Essen hervorgerufen wurde, noch verstärkt wurde.

Jeden Tag litt ich Höllenqualen. Genauer gesagt, war jede Minute in der Schule eine Tortur. Ich litt schweigend und erzählte meiner Mutter nichts davon, denn ich wollte ihre Leiden nicht noch verstärken. Die einzige Freude, an die ich mich erinnern kann, war, den vorbeifahrenden Autos nachzuschauen und sie zu zählen.

Unsere Mietwohnung war in Wirklichkeit die Hälfte eines Hauses, nur zwanzig Meter von der Straße nach Chernowitz entfernt, welches etwa 16 Kilometer von unserem Dorf entfernt war. Die Dorfsynagoge lag auf unserem Hof und diente als Gotteshaus für alle 95 Juden, die seit Generationen in Boian lebten. Unter ihnen befanden sich der Doktor, der Apotheker, der Rabbi und Ritualschlachter, ein paar Ladenbesitzer und Angehörige anderer typisch jüdischer Berufsstände wie Schneider, Schlachter usw.Während des Jahres, das wir in Boian verbrachten, besuchte uns kein Familienmitglied. Wir hielten nur per Post Kontakt, wobei die strikte Zensur stets bedacht werden musste. Großvater und Großmutter wurden nach Sibirien verbannt und ihre unverheirateten Kinder, die noch zu Hause waren, zogen jeweils dorthin, wo sie konnten, um der Deportation in Arbeitslager nach Donbas oder Sibirien zu entkommen. Wenn wir nicht auf den jüdischen Sowjetoffizier gehört hätten, wäre uns mit Sicherheit ein ähnliches Schicksal widerfahren.

Wir hatten keine weiteren Informationen darüber, was in der Welt geschah. Wir besaßen kein Radio mehr, da wir es „verkauft” hatten.

Es gab in dem Dorf keine Tageszeitung, es sei denn, jemand brachte eine aus der Stadt mit. Die einzig verbleibende Nachrichtenquelle waren Gerüchte.


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Der Blitzkrieg

Meine Mutter war verreist, um Verwandte zu besuchen, als die Deutschen am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion einmarschierten, und sie kehrte mit meiner Schwester, der Lehrerin, in deren Sommerferien nach Hause zurück.

Der Rückzug der UdSSR begann früher als erwartet; wir wussten nicht einmal, dass die Sowjetarmee in unserer Gegend durch das tiefe Eindringen der Deutschen in die ukrainische Front umzingelt war.

Nach wenigen Tagen und Nächten kam der Rückzug der Truppen zum Stillstand. Während der ersten Tage des chaotischen Rückzugs sah man lange Reihen von Truppen, Fußsoldaten, einige zu Pferd und andere in Fahrzeugen. Artillerie und andere schwere Geschütze machten großen Lärm und erschütterten die Häuser nahe der Straße.

Die Lage war so unglücklich wie nur irgend möglich. Ich dachte an die stolze und fröhliche Szene des Vorjahres, als die Sowjetsoldaten in das Dorf einmarschiert waren; nun war es der traurige und hässliche Anblick von Soldaten auf dem Rückzug, die wussten, dass ihr Schicksal besiegelt war.

Als der Rückzug abgeblasen war, oder vielleicht keine Soldaten mehr übrig waren, wurde es plötzlich still, jedes Geräusch erstarb buchstäblich. Man sah nur ein paar Gruppen von Dorfbewohnern hier und da an der Dorfstraße stehen.


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Pogrom und Massaker in Boian

Der Müller der Mehlfabrik wollte meinem Vater seine Dankbarkeit dafür erweisen, dass er ihm seine Erfahrung zur Verfügung gestellt und ihm das Handwerk beigebracht hatte. Heute glaube ich, dass er es nur tat, weil er ein anständiger Mensch war; was auch immer der Grund gewesen war, er riet meinem Vater, sich entweder zu verstecken oder sofort das Dorf zu verlassen, weil in der Nacht etwas Schreckliches geschehen würde.

Mein Vater warnte die Juden im Dorf, doch diese nahmen ihn nicht ernst. Man konnte sie verstehen, sie hatten seit Generationen in dem Dorf gelebt, kannten jeden und lebten in Friede und Freundschaft mit ihren Nachbarn zusammen.

Wie man so schön sagt, „die Lage war ruhig.” Die Sowjets waren schon fort und die Deutschen noch nicht da, mit Ausnahme von ein paar Stuka-Kampfflugzeugen, die Tiefflüge über die Gegend gemacht hatten. Es war das erste Mal, dass ich überhaupt ein Kampfflugzeug gesehen hatte; ich konnte den Kopf des Piloten deutlich erkennen und ich glaube, ich sah sogar seine Augen. Das Geräusch jagte mir Angst ein, doch meine Neugier half, meine Furcht zu besiegen.

Mein Vater befolgte den Rat des Müllers, jedoch nur zum Teil. Wir versteckten uns auf dem Dachboden des Hauses und „verbarrikadierten” uns, indem wir ein paar Gegenstände gegen die Tür schoben.

Bei Einbruch der Nacht begann der Pogrom, der sich bei zunehmender Dunkelheit noch intensivierte und fast bis zum Morgenanbruch dauerte.

Auf verschiedene Art und Weise ermordeten die Nichtjuden fast alle Juden. Durch einen Riss im Dach sahen wir, wie sie den Rabbi wegzerrten, in dessen Rücken eine Heugabel steckte. Unter uns brachen sie ein und verwüsteten alle Wohnungen. Neben unserem Haus verbrannten sie die Bücher und die Rollen der Thora aus der Synagoge. Dann waren sie es leid, zu stehlen und sich sinnlos zu betrinken, zu tanzen und zu singen. Sie versuchten, auf den Dachboden vorzudringen, wo wir uns versteckt hatten, aber ohne Erfolg. Nach vielen Versuchen, das Hindernis zu überwinden, das wir hinter dem Dachbodeneingang errichtet hatten, gaben sie es auf und beschlossen stattdessen, das Haus in Brand zu stecken.

Da uns keine andere Alternative blieb, gingen wir die Leiter hinunter und fanden uns zu unserem Erstaunen allein. Weder in unserer Wohnung noch in der Umgebung waren Verfolger zu sehen. Wir stahlen uns aus dem Haus und fanden zu unserer Freude den Müller vor, der wusste, dass wir uns auf dem Dachboden versteckt hatten. Er erklärte meinem Vater die Lage und bestand diesmal darauf, dass wir sofort das Dorf verlassen müssten. Er führte uns zu den Feldern am Dorfrand, damit wir uns dort verstecken und im Schutze der Dunkelheit fliehen konnten. Wir hatten uns in der Hoffnung auf dem Dachboden versteckt, dass nach einer Weile alles vorüber sein würde.

Wir hatten keine Vorstellung davon, was wirklich geschehen würde, und so hatten wir in unserem Versteck nur dünne Kleidung getragen, die für drinnen angemessen war, jedoch völlig unzureichend, um darin von Ort zu Ort zu ziehen, zu schlafen und bei Nacht über die Felder zu ziehen. Glücklicherweise hatten wir alle Schuhe an.

Wir gelangten an das andere Ende der Felder und versteckten uns im Weizen, wobei wir während des Tages keine Bewegung und keinen Laut riskierten. Die Feldarbeiter entdeckten uns nicht, aber wir hörten ihre Stimmen und die Geräusche ihrer Arbeitsgeräte.

Wir wussten bereits, wozu sie fähig waren, und gingen kein Risiko ein. Wir verhielten uns den ganzen Tag über mucksmäuschenstill.

Beim Einbruch der Nacht wanderten wir, insgesamt drei Tage lang. Wir legten dabei nur sechzehn Kilometer zurück, doch es war die längste, schmerzhafteste und anstrengendste von all unseren Wanderungen. Mein Vater trug die Eigentumsrechte an seiner Mühle in einer Jackentasche. Er dachte in seiner Harmlosigkeit, dass die Rumänen seinen Kapitalismus positiv sehen würden.

Unser naives Alibi war, dass wir uns auf der Flucht vor den Kommunisten befanden. Mein Vater machte sich große Sorgen, dass uns etwas zustoßen würde, und wollte nicht, dass wir leiden mussten.

Jede Nacht und bei jeder Rast plante er den Selbstmord der Familie: durch Ertrinken, wenn wir in der Nähe des Prut waren; einmal mit einem Rasiermesser, das er aus einem unerfindlichen Grund bei sich hatte, und einmal, indem er den Heuhaufen, in dem wir uns versteckten, in Brand setzen wollte.

Ich glaube, mich zu erinnern, dass ich gegen all diese Pläne war. Ich mag nicht gewusst haben, was es bedeutete, zu sterben, aber ich wollte leben. Meine Vorstellung vom Tod beruhte nur auf dem, was ich in Lipcani gesehen hatte, vor der Synagoge auf dem Weg zum Friedhof. Ich sah die Trauer, das Weinen, die Trauergesänge, die Tragödie. Daher war meine Vorstellung vom Tod schwer fassbar und abstrakt.

Die Vorstellung vom Leben war normal, selbstverständlich und brauchte weder in Frage gestellt noch erklärt zu werden. Es war eine Tatsache, mit der ich mich wohl fühlte. Es gab keinen Grund, die Tatsache in Frage zu stellen, dass ich lebendig war, und dass ich weiterleben wollte, um all den Herausforderungen und Gelegenheiten, die es zu bieten hat, ins Auge zu schauen.

Unterwegs trafen wir auf ein Kommando von rumänischen Soldaten, die uns mit großem Misstrauen begegneten, doch sie akzeptierten die Erklärungen meines Vaters, oder vielleicht war es eher die Beschlagnahmung der Armbanduhr meines Bruders, die sie zufrieden stellte.

Da wir sehr müde waren und immer noch sehr naiv, was die örtliche Bevölkerung betraf, versuchten wir, Pferd und Wagen zu mieten, um nach Chernowitz zu gelangen.

Wir trafen einen Bauern unweit des Dorfes Mahala, das für seine Bösartigkeit berüchtigt war. Wir fragten, ob wir seinen Wagen mieten konnten, um ins Dorf zu fahren. Er stimmte zu und brachte uns fast bis ins Dorfzentrum. Er hatte entweder heimlich einigen der Dorfbewohnern erzählte, was wir vorhatten, oder vielleicht gemeinsam mit ihnen geplant, uns zu überfallen. Wie auch immer, sie versammelten sich um uns und fingen an, meinen Vater, meine Mutter und meinen Bruder zu schlagen. Meine Schwester und ich rannten fort und sahen unter Höllenqualen zu, wie meine Familie zusammengeschlagen wurde.

Meine Mutter erlitt eine schwere Kopfverletzung, wodurch sich ihr Hauskleid mit Blutflecken tränkte. Sie wurde leichenblass und weinte. Seit frühester Kindheit hatte meine Mutter ein tränendes linkes Auge. Als sie ein junges Mädchen war, hatte sie ein Hund in die Oberlippe und das untere Augenlid gebissen. Dieses Mal weinte sie nur still vor sich hin, gab keinen Laut von sich.

Sie litt schweigend und dachte mit Sicherheit an ihre Mutter, die ähnliche Qualen erlitten hatte, als man ihr alles fortnahm, und an alles, was geschehen war! Vielleicht machte sich meine Mutter noch mehr Sorgen über die Qualen, die wir anderen zu erdulden hatten, aber wir sprachen niemals darüber. Ich fragte sie nie, da ich nicht wollte, dass sie das schreckliche Erlebnis noch einmal durchmachen musste.

Drei große, starke Nichtjuden schlugen meinen Vater zusammen. Mein kleiner Vater krümmte sich immer mehr zusammen, bis er umfiel. Sie rollten ihn in den Straßengraben, wobei sie ihn traten und auf ihm herum sprangen. Mein Bruder wurde durch einen geworfenen Stein an der Hand verletzt. Als diese riesigen Bauern es schließlich zufrieden waren und dachten, dass sie es „uns ordentlich gegeben hatten”, gingen sie fort. Wir müssen diesen Banditen dankbar sein, denn sie haben uns nicht umgebracht, wie es ihre Freunde in Boian taten. Wir hatten wieder Glück gehabt und flohen zurück in die Felder, aus denen wir gekommen waren. Nach einer kurzen Bestandsaufnahme dankten wir Gott, dass wir noch lebten. Im Licht der Alternative waren die Schmerzen bald vergessen. Wir lagen in dem Feld, bis die Dämmerung anbrach, lange, qualvolle Stunden. Der Hochsommer hat lange Tage, und diese Tage nahmen für uns kein Ende. Als es endlich dunkel war, machten wir uns auf die nächtliche Wanderung. Am nächsten Morgen erreichten wir in einen Industrieflecken, Juchka, am Südufer der Prut, mit einer Brücke, die nach Chernowitz führte, dem Ort, den wir zu erreichen versuchten.

Wir hatten das Gefühl, allein in der Stadt zu sein. Der Ort schien verlassen. Wir wanderten schweigend die Gassen entlang. Wir gingen durch die Höfe und alles lag verlassen da.

Wir kamen an ein Haus, das offensichtlich Juden gehörte, da es einen Verschlag an der Wand hatte, der ausschließlich dazu verwendet wurde, Fleisch koscher zu machen.

Obwohl diese Häuser verlassen zu sein schienen, beschlossen wir aus Angst, Misstrauen zu erregen, nicht einzutreten. Wir versuchten stattdessen, einen Schuppen hinter dem Haus zu finden, in dem wir uns den Tag über ausruhen konnten, und dann einen Weg über die Brücke nach Chernowitz zu suchen.

Wir betraten den Schuppen, kletterten auf den Heuboden, um uns zu verstecken und von all dem auszuruhen, das wir erlitten hatten. Nach all den Nächten in den Feldern war eine kurze Rast wohlverdient.

Etwa eine halbe Stunde, nachdem wir den Schuppen betreten hatten, hörten wir, wie jemand langsam und vorsichtig die Stalltür öffnete. Mein Vater flüsterte, dass es sicher ein Jude sei, da die Nichtjuden die Türen rasch und kräftig aufreißen würden. Vater hatte Recht. Der Besucher war ein Jude, ein Anwohner, der uns gesehen und beobachtet hatte. Er brachte uns heißen Tee und bat uns, sofort zu verschwinden, da wir ihn und alle jüdischen Bewohner von Juchka in Gefahr bringen würden. Er erzählte uns, dass der ehemalige rumänische Polizeichef zurückgekehrt war und das gegenseitige Einvernehmen, das vor der Sowjetbesatzung geherrscht hatte, wieder eingetreten sei.

Der Polizeichef versprach, dass ihnen nichts geschehen würde, solange sie in der Stadt blieben; wenn er jedoch einen Fremden unter ihnen entdeckte, würde er diese Fremden und denjenigen, der sie beherbergte, töten. Er wollte nicht riskieren, sich selbst und seine Familie in Gefahr zu bringen. Mit großem Bedauern bat er uns, zu verschwinden. Er erklärte sich bereit, uns ein verlassenes Haus zu zeigen, in dem wir uns verstecken konnten, bis wir den schlimmsten Schock überwunden hatten.

Ohne zu widersprechen, zogen wir in ein verlassenes Haus, um uns auszuruhen. Mutter fand ein Kleid, sodass sie ihr eigenes blutverschmiertes Kleid wechseln konnte, es gab auch etwas trockenes Brot und einen Topf mit saurer Milch, aber bedeckt mit hungrigen Fliegen.

Man konnte die Brücke zwischen Juchka und Chernowitz vom Fenster aus sehen; wir betrachteten sie und versuchten, eine Möglichkeit zur Überquerung zu finden.

Einige Stunden waren vergangen, als wir ein Klopfen an der Tür vernahmen. Draußen stand eine Gruppe von Leuten, einer davon in Uniform, offensichtlich der Polizeichef. All die Leute um ihn herum waren offenbar die hiesigen Juden, die beschlossen hatten, uns anzuzeigen und dadurch ihr eigenes Leben zu retten. Wir nahmen es ihnen nicht übel, doch nach dem Krieg änderten wir unsere Meinung, wenn wir an die vielen (und doch nicht genügenden) Nichtjuden dachten, die sich selbst in Gefahr brachten, um Juden bei sich zu verstecken und zu retten.

Der Polizist sagte, dass wir nicht in der Stadt bleiben durften, und dass er „ein Auge zudrücken” würde, wenn wir den Fluss überquerten. Wir hatten keine Wahl, also taten wir es. Schließlich war dies unsere ursprüngliche Absicht gewesen, in die Stadt zu gelangen, da wir glaubten, dass es uns dort besser ergehen würde.

Wir hofften immer noch, mit dem Rest der Familie zusammenzutreffen, aber zu jener Zeit wussten wir nicht, wo sie sich befanden.

Der Polizeibeamte geleitete uns zur nahe gelegenen Brücke, um sicherzugehen, dass wir auch wirklich nach Chernowitz und damit aus seinem Einflussbereich gingen. Als wir die zerbombte Brücke betraten, sahen wir uns vor einem „technischen” Problem. Die Sowjetarmee hatte die Brücke bombardiert und sie konnte nur noch zu Fuß überquert werden. Soldaten, rumänische und deutsche, waren überall.

Es war nicht allzu schwer, auf der Brücke entlangzugehen, bis wir an den zerbombten Teil gelangten. Mein Vater, meine Schwester, mein Bruder und ich konnten den zerstörten Teil überqueren, aber Mutter hatte Probleme. Sie war von dem Blutverlust geschwächt, müde und hungrig. All dies zusammengenommen machte sie schwindlig. Sie konnte beim Klettern über den schwankenden zerbombten Teil der Brücke ihr Gleichgewicht nicht halten. Wir waren ratlos, bis ein rumänischer Soldat unser Dilemma bemerkte und ohne, dass er etwas über uns wusste, meiner Mutter half, das andere Ende der Brücke sicher zu erreichen.


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