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Wieder unter Sowjetherrschaft

Um diese Zeit etwa erreichte mein Bruder David das Alter von 21 Jahren und wollte nun in der Sowjetarmee seinen Teil zum Gewinn des Krieges beitragen. Er meldete sich freiwillig zum Wehrdienst und bekam den Job eines Dolmetschers in einem der Stützpunkte an der ukrainischen Front unter dem Befehl von Marschall Tolbuhin.

Mein Bruder ging aus freien Stücken fort, das heißt, als Kriegsfreiwilliger. Onkel Zunia wurde nicht lange danach eingezogen. Da er aus einem Gebiet eingezogen wurde, das zuvor von den Nazis besetzt gewesen war, betrachtete man ihn als nicht vertrauenswürdig genug, um den Kampftruppen zugeordnet zu werden. Er und seinesgleichen wurden in die „Arbeiterarmee” in der Region von Moskau eingezogen, wo sie wie Sklaven arbeiteten und behandelt wurden – nicht nur durch die Arbeit, die man ihnen gab, sondern auch durch ihre Lebensbedingungen, Essen, Nahrung usw…

Eine Panzerkompanie bezog Stellung in unserem Vorgarten. Der Kommandant war ein Hauptmann aus der Sowjetrepublik Georgien. Ich war ein Kind von vierzehn, aber von der Größe eines Elfjährigen. Ich freundete mich mit ihm und einigen Unteroffizieren an. Ich lud den Hauptmann zu uns nach Hause ein.

Es war eine gute Zeit für meine Familie. Jeden Tag deckten wir einen großen Tisch, beladen mit Armeerationen, gemeinsam zubereitet von meiner Mutter und den Soldaten. Das Essen bestand aus Gemüse und einer Menge von amerikanischer Dosennahrung. Ich, der in Bezug auf Essen sehr wählerisch war, aß und genoss zum ersten Mal das Essen.

Der Hauptmann nahm mich mit auf Erkundungszüge in benachbarte Dörfer, und bei der Gelegenheit lernte ich, dass sich auch eine Befreiungsarmee in vielen Dingen ähnlich wie eine Eroberungsarmee verhält. Der höfliche und sanftmütige Offizier und sein Fahrer gingen einfach auf die Suche nach jungen Mädchen und Frauen, um sich zu amüsieren. Wenn Frauen laut und unmissverständlich deutlich machten, dass sie nicht willens waren, „Beziehungen” anzuknüpfen, nahmen die Offiziere sich mit Gewalt, was sie wollten. Ihre Entschuldigung und Ausrede war, dass die ukrainischen Mädchen dies mit den Deutschen freiwillig getan hätten und somit Verräterinnen an der sowjetischen Heimat waren und es nicht notwendig wäre, sie zu behandeln, als ob sie rein und unberührbar seien.

Der georgische Offizier „verliebte” sich in Tante Batya und machte ihr nach allen Regeln der Kunst den Hof. Diese Romanze hielt jedoch nicht allzu lange, die Armeepflichten waren erste Priorität und der junge Hauptmann führte seine Truppen auf die Schlachtfelder von Rumänien und Ungarn.

Tante Batya, die vor der Invasion der Deutschen in der Buchhaltung der Chernowitzer Eisenbahn gearbeitet hatte, bewarb sich bei der Eisenbahn von Moghilev, als diese ihre Funktion wieder aufnahm. Sie bekam die Stelle und dies half uns in der Zukunft.

Mein Vater nutzte meine guten Beziehungen zu den Soldaten, die auf unserem Grundstück lagerten und ließ sich ein Stück mitnehmen, mit der Absicht, Lipcani und vielleicht sogar das Dorf Boian zu erreichen.

Ich blieb daheim als der „Mann der Familie” und sorgte mich um unseren Lebensunterhalt. Ich überredete unseren Hauptmann, einen Lastwagen mit Flüchtlingen, die heim wollten, loszusenden; natürlich bezahlten diese den Transport. So wurde ich im zarten Alter von nicht ganz vierzehn Jahren „Inhaber” einer Reiseagentur.

Unser Haus wurde bald zu einem Gasthaus für Familie, Freunde und Bekannte, die aus den Tiefen der Ukraine nach Hause zurückkehrten.

Ihre Heimat befand sich im von den Nazis befreiten Bessarabien und der Bukowina. Einige von ihnen blieben ein paar Tage, während andere längere Zeit bei uns verbrachten. Die Familie Coifman, das heißt, Onkel Ya'akov und Tante Dina, die die Schwester meiner Großmutter war, blieben mehrere Wochen bei uns.

Tante Dina hatte das Seifemachen gelernt und machte auch welche, als sie uns besuchten, aber sie behielt das Geheimnis für sich. Sie hielt das Verhältnis von Fett, Soda und Wasser vor uns geheim, aber ich spionierte ihr nach, während sie mit den Zutaten hantierte, und nachdem ich sie zwei- bis dreimal beobachtet hatte, kannte ich ihr Geschäftsgeheimnis.

Als sie fort waren, begann ich selbst Seife zu machen. Natürlich war meine Seife nicht sofort richtig, weil ich nicht alles verstanden hatte, was sie tat, doch mit der Zeit verfeinerte ich den Prozess und stellte nun Seife her, die Körper und Kleidung nicht nur reinigte, sonders diese auch ganz ließ. Es herrschte große Nachfrage nach Waschseife und das Geschäft blühte. Doch die Nachfrage nach Toiletteseife wurde immer größer, und ich wusste nicht, wie man diese herstellte. Ich hatte jedoch eine Idee, wie man die Waschseife als Toiletteseife verkaufen konnte. Anstatt die Duftstoffe schon bei der Herstellung zuzufügen, teilten wir die Seife beim Verkauf mit parfümierten Handschuhen aus. Nicht sehr nett, aber wer überleben will, nimmt sich manchmal moralische Freiheiten heraus.


Inhalt



Rückkehr nach Boian

Ich weiß nicht, was uns zur Rückkehr „nach Hause” bewegt hatte. Vielleicht hatte es ein Zeichen von Vater oder von jemand anderem gegeben, jedenfalls beschloss man, nach Hause zu reisen, obwohl „zu Hause” das große Unbekannte war. Tante Batya reservierte für uns Plätze im Zug; die Truppentransportzüge waren für die Öffentlichkeit nicht verfügbar.

Der Zug brachte uns bis in das Dorf Larga, in dem meine Schwester 1940-41 als Lehrerin gearbeitet hatte. Die Zugwaggons waren voll gestopft mit Flüchtlingen, Truppen und deren Waffen. Es gab auch ein paar Frachtwaggons mit Artillerie, Panzern und Lastwagen sowie weitere mit Nahrung und Munition.

Die so genannten „berechtigten” Passagiere reisten in den für Führung und Wachen reservierten Waggons, während die Flüchtlinge sich, so gut es ging, auf den Dächern oder auf der Lokomotive verteilten. Wir hatten Glück und wurden als berechtigt betrachtet.

Von Larga aus fuhren wir weiter nach Lipcani, aber diesmal hängten wir uns an die Lokomotive. Wir erreichten Lipcani mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite waren wir froh, zu Hause und in Sicherheit zu sein, auf der anderen Seite jedoch sorgten wir uns darüber, was uns erwartete, falls man uns als ehemalige „Kapitalisten” betrachtete.

Wir gingen von der Bahnstation aus durch das fast menschenleere und teilweise zerstörte Schtetl. Wir fanden keine einzige jüdische Familie in einer Stadt, die einst zehntausend Einwohner hatte. Wir erreichten die Stelle, an der einmal unser Heim gestanden hatte und stellten fest, dass das Haus bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Nur Reste von Asche und verbranntem Holz waren noch zu finden. Der Garten, in dem ich viele glückliche Tage verbracht hatte, war vernachlässigt und verrottet.

Die Mühle und Onkel Moshes Haus standen noch. Trotz all dem, was mit uns geschehen war, waren wir immer noch naiv. Wir „vergaßen”, dass wir uns immer noch in der Union der Sowjetrepubliken befanden, wo niemals jemand irgendjemand vergisst, besonders nicht diejenigen, „die Arbeiter ausgebeutet oder ausgenutzt hatten.” Wir erhielten die Erlaubnis, die Nacht im Büro der Mühle zu verbringen. Es wurde uns nahe gelegt, das Dorf zu verlassen, wenn uns nichts an einer Wiederholung der vorigen Ereignisse gelegen wäre.

Unser Beschluss erhärtete sich, als wir eines unser ehemaligen Hausmädchen besuchten, die übrigens einen unserer Arbeiter, einen Zimmermann, geheiratet hatte. Wir waren mehrere Stunden bei ihnen, während deren sie uns darüber „auf den neuesten Stand brachten”, was geschehen war, seit wir die Stadt verlassen hatten. Nach einigen Stunden, die wir ihre Gastfreundschaft genossen hatten, stimmten wir ihrem Rat zu, aufgrund unseres Hintergrundes nicht in Lipcani zu bleiben. Die traurige Geschichte unseres Unglücks hätte uns hier wenig genützt! „Sibirische Kapitalisten” war das Schlagwort der Stunde. Wir hatten keine Wahl, als nach Boian zu wandern, während wir uns daran erinnerten, dass alle 95 Juden dort kaltblütig massakriert worden waren.

Man erkannte uns in Lipcani nicht, und nachdem wir seine Straßen durchwandert hatten, gelang es uns, von einem Armeelastwagen bis nach Nova Sulitza mitgenommen zu werden. Meine Mutter und meine Schwester blieben in Nova Sulitza zurück und ich wanderte allein zu Fuß in das Dorf Boian. Ich weiß nicht, ob die Strecke 20 oder 30 Kilometer lang war, aber mir erschien der Weg sehr lang und die Wanderung dauerte eine Ewigkeit.

Ich wollte sehr gern meinen Vater wieder treffen, den ich etliche Monate nicht gesehen hatte. Ich passierte einige Dörfer, in denen Bauern auf den Feldern arbeiteten, einige mit Pferd und Wagen. Niemand stellte mir Fragen, und ich versuchte nicht, mit jemanden ein Gespräch anzufangen. Obwohl ich von der anstrengenden Reise sehr erschöpft war und durch die Umstände unserer Rückkehr sehr angespannt, versuchte ich nicht, irgendwo mitzufahren.

Wenngleich die Situation nun anders war, konnte ich doch nicht umhin, mich an die Szene von Mahala vor drei Jahren erinnern, und ich wollte nicht bei jemand mitfahren, der ein potentieller „Pogromist” gewesen sein könnte.

Ich hatte in den drei schrecklichen Jahren eine Art besonderen Überlebenssinnes entwickelt. Ich wusste, wann ich mich zurückhalten, wann ich betteln und wann ich mich wehren und, wenn nötig, sogar kämpfen musste. Hier war es am besten, schweigend zu wandern und der Vergangenheit zu gedenken, sich an alles zu erinnern und es so tief wie möglich ins Gedächtnis einzugraben, denn wir haben die Botschaft an die nächste Generation weiterzugeben, niemals zu vergessen und sich nicht vom falschen Anschein täuschen zu lassen. So erinnerte ich mich auch daran, dass mein Vater die hiesige Judengemeinde gemahnt hatte, dass etwas Schreckliches geschehen würde, und an deren negative Reaktion, die sie schließlich das Leben kosten sollte. Einzig unsere Familie, Dr. Lindenbaum und David Factor überlebten.

Am Nachmittag erreichte ich den Dorfrand von Boian. Mit jeder Minute, die verstrich, fühlte ich mich mehr wie ein Mann. Viele Bilder vom Dorfleben drei Jahre zuvor gingen mir durch den Kopf, besonders die Nacht des Pogroms. Ich ging direkt zur Mühle, wo ich meinen Vater zu finden hoffte, doch zu meiner großen Enttäuschung war er in Chernowitz, um nach seinem Geschäft zu sehen.

Der Müller, der uns am Vorabend des Pogroms 1941 das Leben gerettet hatte, erkannte mich sofort. Er umarmte und küsste mich voller Wärme, mit Tränen in den Augen. Ich fühlte, wie ein wenig der Furcht vor dem Unbekannten sich von mir löste. Bevor ich den Müller traf, hatte ich keine Vorstellung davon, wie die hiesige Bevölkerung auf die Überlebenden des Pogroms vom Juli 1941 reagieren würde.

Der Müller verstand meine Befürchtungen und machte mir Mut. Er erklärte, dass sich die Dinge verändert hatten und dass diejenigen, die für den Pogrom verantwortlich gewesen waren, streng bestraft werden würden. Er brachte mich zu der Wohnung, die Vater von einer hiesigen polnischen Familie gemietet hatte, und dort wartete ich auf seine Rückkehr.

Ich schlief ein und Vater kam sehr spät heim; er weckte mich. Nicht einmal in den vergangenen drei Jahren hatte ich ihn so froh und voller Energie erlebt. Er umarmte mich und lachte und weinte zugleich. Er erzählte mir in groben Zügen von dem, was ihm geschehen war, seit er von uns getrennt gewesen war. Zuerst besuchte er sein Heimatdorf Viishoara, wo er viele Jugendfreunde wieder traf. Er war dünn und unterernährt und sie waren dick und gesund. Einer von ihnen, ein Mann von einem Meter achtzig, sagte: „Ich bin so glücklich, dich wieder zu sehen, dass ich dir eins mit der Faust verpassen könnte.” Mein Vater dankte für die Geste und verließ das Dorf. In Lipcani, unserer Heimatstadt, hielt er nicht einmal an. Er ging direkt nach Boian, eingedenk der Tatsache, dass wir uns wieder unter kommunistischer Herrschaft befanden.

Er gab mir zu essen, bis ich beinahe platzte. Ich aß Weizenbrei mit echter Milch und viel Zucker; ich aß Honig, doch die Sahne war am Allerleckersten. Mein Vater arbeitete als Prokurist in der Mühle und in der Meierei gegenüber. Ich hatte seit 1940 keine frische Sahne gegessen. Die Sahne, die mein Vater bekam, bestand aus dem Rahm, der sich auf der Milch abgesetzt hatte, oder, wie die Franzosen sagen, „la crème de la crème.”

Ich übernachtete in Vaters Mietwohnung und am nächsten Tag fuhren Vater und ich mit Pferd und Wagen los, um den Rest der Familie von Nova Sulitza heim zu holen.

Das Wiedersehen mit meiner Mutter und Schwester war sehr bewegend. Sie alle umarmten sich und weinten, obwohl es ein glücklicher Moment war. Doch wie kann man sich freuen, wenn man sich stets an all das Leid und den Verlust in unserer Familie und in der gesamten jüdischen Bevölkerung Europas erinnert? Nach dem ersten Wiedersehen, und nachdem wir etwas von den Leckereien gegessen hatten, die Vater mitgebracht hatte, machten wir uns auf den Rückweg noch Boian.

Während der Fahrt sprach niemand. Es war ein Moment des Nachdenkens und sich Erinnerns. Es war eine Zeit der Bestandsaufnahme. Wir erreichten die Wohnung und richteten uns vorübergehend darin ein. Wir fanden unsere Schlafzimmereinrichtung und einen Teil des restlichen Mobiliars bei der Person, die verantwortlich für die Mühle war und die den Posten auch während der deutschen Besetzung weitergeführt hatte. Er sagte, „ich habe es für Sie aufbewahrt”, aber wir wussten, dass er einer der Banditen war, die sich aktiv an dem Pogrom beteiligt hatten. Später wurde ihm der Prozess gemacht, und er wurde nach Sibirien verbannt.

Wir wollten alle Schuldigen im Dorf zur Rechenschaft ziehen, da wir Augenzeugen des Massakers an den Juden im Dorf gewesen waren, aber einer der höchsten Offiziere, ein Jude, der mehrere Tage bei uns zu Gast war, riet meinem Vater, die Sache nicht wieder zur Sprache zu bringen, da es nicht die richtige Zeit dafür war.

Er hatte Recht, doch wir konnten es nicht ertragen, mit den Mördern zusammenzuleben und ihre schrecklichen Taten vergessen. Wir versuchten, ein paar Untersuchungen in Gang zu setzen, aber wir fanden schnell heraus, wie Recht der Offizier hatte. Wir fühlten, dass wir Gefahr liefen, eine Zielscheibe des Hasses zu werden, was entweder damit enden konnte, dass wir versehentlich getötet oder verletzt oder unter falschen Beschuldigungen deportiert werden würden. So änderten wir unsere Einstellung und verschoben unsere Rachegelüste auf später.

Damit nicht genug, wussten wir auch, dass unser Aufenthalt in Boian nur vorübergehend sein würde, und wir einen Ausweg finden oder nach Chernowitz gehen und das Land bei frühester Gelegenheit verlassen mussten. So musste ich wieder in die Schule! Meine Klassenkameraden von 1941 hatten, während ich von Klasse zu Klasse und von Ghetto zu Ghetto gewandert war, ihr gewohntes Leben weitergeführt. Meine Erinnerungen waren erfüllt vom Überlebenskampf zusammen mit meiner Familie, wobei wir den Tod, entweder durch Hunger oder durch Krankheit, mehr als drei Jahre lang stets vor Augen hatten.

Sie waren gewachsen, ich war aufgrund meiner Unterernährung noch genauso groß, wie ich 1941 gewesen war. Trotzdem ich drei Schuljahre verpasst hatte, nahm man mich in die siebte Klasse auf.

Damals war ich kleiner als sie, aber es störte mich nicht. Mit der reichhaltigeren Ernährung begann eine neue Wachstumsperiode. Ich genoss es, wieder zur Schule zu gehen. Mein Lehrer, ein altes Fräulein, hatte Mitleid mit mir und kümmerte sich persönlich um mich.

Sie versuchte ihr Bestes, mich die fehlenden Schuljahre aufholen zu lassen, indem sie mir Privatstunden gab, ohne Bezahlung und ohne, dass meine Eltern sie darum baten, doch sie waren sehr dankbar dafür.

Durch die Jahre im Ghetto war ich ein kleiner Erwachsener geworden. Nun wurde ich wieder zu einem Kind mit den Erfahrungen eines Erwachsenen. Ich saugte alles in mich auf, was mir meine Lehrerin zu lesen gab, sobald meine Lesefähigkeit sich besserte. Die Jahre im Ghetto lehrten mich vieles über Leben und Tod, doch wenig über Natur, Geschichte, die Schönheit der Musik und das Erlebnis der Poesie. Nun war ich bereit, dies alles zu genießen und in mich aufzunehmen.

Meine Minderwertigkeitsgefühle, ein „Jude”, ein „Nichts”, „überflüssig” zu sein, verflogen allmählich. Mit der Zeit und mit der hingebungsvollen Hilfe meiner Lehrerin wurde ich zum Zentrum aller Aktivitäten in der Schule, sowohl kulturell wie bildungsmäßig.

Alle zwei oder drei Wochen an den Wochenenden pflegte ich zu Fuß nach Chernowitz zu gehen, um meiner Schwester, die dort an der Universität studierte, Essen zu bringen. Von Besuch zu Besuch fiel es ihnen schwerer, mich wieder zu erkennen. Ich schoss in die Höhe, und auch meine Füße wuchsen.

Ich weiß nicht, wie ich die Winter im Ghetto überstanden habe, wenn ich daran denke, dass ich keine Schuhe besaß. Während des letzten Jahres, als sich unsere finanzielle Lage gebessert hatte, kaufte man mir ein Paar „Valinki” (Stiefel aus Woll- und Baumwollfilz).

In dem Hof des Ghettos, wo wir lebten, befand sich ein Schuhmacher. Er machte mir ein Paar Sandalen. Sie waren sehr bequem und sogar attraktiv. Die Schuhriemen waren weich und weiß. Während eines Sommertages, wie ich es oft tat, wenn es nichts zu essen und nichts zu tun gab, lag ich auf einer Wiese nicht weit von unserem Haus. Es war ein warmer, sonniger Sommertag. Ein leises Lüftchen wehte und ich fühlte mich wohl. Ich legte die Sandalen unter meinen Kopf und schlief sehr zufrieden ein. Als ich aufwachte, waren meine Sandalen weg, und ich konnte sie nirgends finden.

Das verursachte mir große Pein; es war ein außerordentlich schwerer Verlust. Es war mir so peinlich, dass mir so etwas passiert war. Nun war ich wieder ohne Schuhe und in Lumpen. Ich wanderte durch das Ghetto auf der Suche nach dem Dieb.

Ein paar Wochen, nachdem meine Sandalen verschwunden waren, fand ich sie an den Füßen eines Kerls, der größer und stärker war als ich selbst. Ich sprang ihn an und verlangte, dass er mir mein Eigentum zurückgab. Der Kerl sagte weder ein Wort noch protestierte er. Er schüttelte mich ganz einfach ab. Ich konnte mich nicht beruhigen, bis ich die Sache vor den Gerichtshof des Ghettos gebracht hatte. Dort konnte ich nicht beweisen, dass mir die Sandalen gehörten, da sie vielen anderen Sandalen ähnelten. Sie hatten keine besonderen Merkmale, und daher bekam ich meine Sandalen nicht wieder.

Die Tatsache jedoch, dass ich die Sache vor das Gericht gebracht hatte, gab mir eine gewisse Befriedigung, und mit der Zeit vergaß ich den Vorfall, bis ich diese Memoiren zu schreiben begann.

Stiefel waren mein Traum! Derselbe Schuhmacher, der mir in Moghilev die Sandalen gemacht hatte, kehrte nach Chernowitz zurück, und er nahm bei mir Maß für ein Paar Stiefel. Wir bezahlten dafür mit ein paar Gläsern saurer Sahne, die ich ihm beim Abholen mitbringen sollte. Doch als er die Stiefel fertig hatte, waren sie mir zu klein. Das war mehr, als ich ertragen konnte!

Ich war untröstlich! Um mich zu trösten, kauften wir einem Soldaten auf dem Schwarzmarkt ein Paar Stiefel ab. Ich trug diese Stiefel fast ständig für die nächsten zwei Jahre, bis wir in Bukarest ankamen. Ich hatte nicht viel Kleidung, daher kauften meine Eltern von einem russischen Soldaten Hosen, die zu den Stiefeln passten. Es gab keine Kleidergeschäfte. Wir kauften den Mantel eines deutschen Offiziers und nähten daraus einen Anzug für mich. Ich wurde ein normaler Junge, da meine Hauptbeschäftigung nun war, Schüler zu sein. In dem Gymnasium war es üblich, die Schüler durch Soldaten zu Kundschaftern und Mitgliedern der Bürgerwehr ausbilden zu lassen. Der Militärberater wurde Kommandeur (Voyenruk) genannt. Unser Voyenruk war ein Jude, der in einer der Feldzüge verwundet worden war und nun an unsere Schule abkommandiert worden war.

Ich war das einzige jüdische Kind an unserer Schule, und da ich lange nicht zur Schule gegangen war, hatte ich mehr Lebenserfahrung als irgendein anderer. Der Voyenruk erkannte meine Fähigkeiten und machte mich zu seinem Assistenten, der statt seiner alle neuen Übungen vorführen musste. Ich machte das wirklich gern und er mochte mich sehr. Ich dachte oft darüber nach, eine Militärlaufbahn zu verfolgen, aber in der israelischen Armee.

Die Schule stellte eine Volkstanz- und Gesangsgruppe zusammen, und ich wurde ausgewählt, ihr beizutreten. Impresario, Choreographin und Gesangslehrerin war meine Klassenlehrerin und offizielle Betreuerin. Auch hier gab sie sich mit mir besondere Mühe. Ich tanzte zusammen mit den Dorfkindern, denen diese Tänze von Geburt an im Blute lagen, und nutzte die Gelegenheit, es ihnen recht bald gleichzutun, damit ich an der so genannten „ukrainischen Olympiade” für Volkstanz und Gesang teilnehmen konnte. Die Siegergruppe sollte am Halbfinale in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, teilnehmen, und von dort aus würden die Sieger zusammen mit den besten Gruppen der Republik auftreten.

Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass ich Talent zum Tanzen hatte und damit auf einmal dazugehörte, als wäre ich in dem Dorf geboren. Die Jungen liehen mir die landesübliche Tracht. Es waren Leinenhosen, die sehr eng waren; sie hatten einen Gürtel, der sehr tief auf den Hüften saß und die so eng mit einem Seil zusammengeschnürt wurden, dass es auf meinen Hüften Spuren hinterließ. Das Hemd bestand aus demselben Material und es reichte bis zehn Zentimeter über das Knie. Ein farbiger, gewebter Gürtel, Brau genannt, der mit langen Fransen verziert war, wurde um die Hüfte geschlungen, und darüber eine naturfarbige Weste aus Schafsfell getragen. Die Weste war mit interessanter, farbiger Stickerei verziert. Auf dem Kopf trugen wir alle hohe Pelzhüte, die fast kegelförmig waren (Caciula). Nachdem wir unsere Vorbereitungen und Trainingsstunden abgeschlossen hatten, fuhren wir nach Chernowitz. Wir wohnten im besten Hotel, dem „Schwarzen Adler”, und aufgrund der Knappheit an Heizmaterial waren die Räume so kalt, dass wir uns in einem Raum zusammenkauerten, alle 24. Wir waren sehr aufgeregt. Die Betreuerin war eine extrem dünne, nicht mehr junge Frau, die ein wenig wie eine Vogelscheuche aussah und aufgrund des Verlustes ihrer Stimme nicht sprechen konnte.

Wir traten als letzte auf, und obwohl wir viel Beifall erhielten, gewannen wir keinen der ersten Plätze. Diese gemeinschaftliche Erfahrung mit meinen Freunden in der Gruppe schweißte uns enger zusammen, und wir blieben eine fest gefügte Gruppe. Der Unterschied zwischen den Moldawiern, Ukrainern, Polen und mir, einem Juden, verschwand völlig. Wir lernten zusammen, tanzten und sangen innerhalb der Schule oder der Gruppe. Für mich war es gut, sogar sehr gut. Ich konnte dadurch einige der verlorenen Jahre wieder wettmachen, und erst da wurde mir klar, wie viel ich in diesen Jahren der Wanderschaft und im Ghetto eigentlich versäumt hatte.

Ein Repräsentant der kommunistischen Partei kam in das Dorf und begann, Parteizellen zu organisieren, besonders eine Gruppe des Komsomol (der kommunistischen Jugendbewegung.) Natürlich waren die besten Kandidaten dafür die Volkstanzgruppe. Ohne Schwierigkeiten trat der Gruppe eine 20-jährige Sowjetin bei, ein langjähriges Mitglied des Komsomol, die an der Eisenbahnstation in Boian arbeitete. Sie war in meinen Augen sehr attraktiv, und in den Worten der damaligen Zeit war sie „gesund und rund.” Sie konnte auf eine kräftige, entspannte Weise singen und brachte uns ein Repertoire von schönen Liedern des russischen Volkes bei. Sie bereitete uns auf die Aufnahmeprüfungen vor. Alles war sehr einfach, und man hätte sich schon anstrengen müssen, um nicht zu bestehen. Die Fragen waren stereotyp, und die Antworten auch. Boian war Teil des Distrikts Sadagura. (Ich nehme an, dass der Rabbi von Sadagura aus dieser Gegend stammt.) Wir zogen in das Dorf und wurden vor einem Komitee von zehn Leuten geprüft. Es war mir klar, dass ich meine Vergangenheit in Lipcani und die Tatsache, dass mein Vater eine Mühle besessen hatte, verschweigen musste. Ich wurde für eine Probezeit von einem Jahr aufgenommen, zusammen mit dem Rest der Gruppe.

An dem Abend veranstalteten sie eine festliche Überraschungsvorstellung für die Kandidaten aus all den Dörfern, die sich aus demselben Anlass zusammengefunden hatten.

Wir ernteten lang andauernden Applaus und gingen später glücklich zu Bett. Wir wurden auf die Häuser des Dorfes verteilt, und es fiel mir zu, bei dem Mädchen von der Bahnstation zu übernachten. Ich muss zugeben, dass ich die ganze Nacht kein Auge zutat. Noch viele Jahre lang konnte ich mir nicht verzeihen, mir nicht die Chance zunutze gemacht zu haben, das zu auszuprobieren, von dem alle sagten, dass es so wundervoll sei! Es schien mir, dass ich sie ebenfalls enttäuscht hatte, denn man nächsten Morgen beglückwünschte sie mich zynisch zu meinem exemplarischen Verhalten.

Mein Vater arbeitete so schwer, als gehöre ihm die Mühle selbst. Es gab keine Ersatzteile und die Mühle hatte seit vielen Monaten nicht funktioniert. Da er die Industrie genau kannte, konnte er Reparaturen organisieren und sogar funktionierende Ersatzteile herstellen, obwohl das Original von der Schweizer Firma Bühler stammte. Indem er das Mehl, das sich in den Rohren des Mahlwerks angesammelt hatte, als Tauschgut verwendete, kaufte er Ersatzteile und bezahlte die Reparaturen. Da es keinen Brennstoff gab, überredete er den neuen Leiter, einen polnischen Juden namens Silber, nach Galizien zu fahren, um Brennstoff zu kaufen.

Die Initiative und Energie, die mein Vater im Ghetto beinahe verloren hatte, kehrten wieder zu ihm zurück. Die Mühle wurde wieder hergestellt und Arbeit und Verdienst waren wieder zufrieden stellend. Geld war kein Problem mehr. Wir konnten uns viele Dinge leisten. Vater war mit 47 immer noch im wehrfähigen Alter, und um nicht zur Armee eingezogen zu werden, musste er als „unersetzlich” eingestuft werden.

Der „Preis” seiner Wichtigkeit war ein Quantum von erstklassigem Mehl, und von Zeit zu Zeit zwei oder drei Schweine von je 50 bis 60 Kilogramm. Eines Tages wurde mein Vater angehalten, als er seine monatliche Portion von Bestechungsmehl zu den Leitern aller nördlichen Mühlen von Bukowina fuhr, und man brachte ihn zum Verhör zur Geheimpolizei (N.K.V.D.). Er konnte entkommen und nahm dies als ein Zeichen, dass Gefahr bestand, und zwar große Gefahr.

So, wie es schon im Ersten Weltkrieg geschah, wechselte Rumänien kurz vor Kriegsende die Seiten. Am 23. August 1944 erzielte König Mihail ein Abkommen mit den Sowjets und verließ die Nazikoalition, die „Achse”, die aus Deutschland, Italien, Japan, Ungarn und Rumänien bestand. Dieser weise und mutige Akt des Königs rettete den Großteil Rumäniens vor der Zerstörung, und aus ehemaligen rumänischen Kriegsgefangenen wurde eine neue rumänische Division gebildet. Die Division wurde nach drei historischen Kriegshelden, „Horia, Closhca & Crishan” genannt.

Aus der Zeitung erfuhren wir vom Näherrücken der russischen Armee zur ungarischen Front. Rumänien war frei und nahm Rückwanderer bereitwillig auf. Auch dieses Mal reagierte Vater schnell auf die drohende Gefahr. Er war keiner von denen, die stets sagten, „das wird nicht geschehen!”

Es kam häufig vor, dass Leute nach Sibirien deportiert oder einfach verhaftet wurden und dann jahrelang auf ein Verfahren warteten. Man konnte auch nach Rumänien überlaufen, für einen Preis natürlich. Kein Preis war hoch genug, um unser Leben zu retten.


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Rumänien – der erste Schritt zur Aliya

Wir holten meine Schwester aus der Universität, mieteten Pferd und Wagen und packten nur das Nötigste; jeder nahm nur einen Gepäckstück.

Mitten in der Nacht bestiegen wir den Wagen und setzten, diesmal freiwillig, unsere Wanderungen fort. Wir überquerten die Grenze nach Rumänien bei der kleinen Stadt Hertza, nachdem wir den verantwortlichen Grenzposten bestochen hatten, und gelangten bis nach Dorohoi.

Es war ein sehr gefährliches Unterfangen, das wir begonnen hatten, denn wenn man uns festnahm, würden wir eines schweren Verbrechens bezichtigt werden. Schon allein Bestechung war illegal, und in mehreren Fällen vor und nach unserer Grenzüberquerung nahmen die Grenzposten die Flüchtlinge fest, nachdem sie das Schmiergeld kassiert hatten. Wir waren sehr angespannt, bis wir endlich auf der rumänischen Seite der Grenze angelangt waren.

Ich war nicht glücklich darüber, Boian zu verlassen, wo ich endlich ein paar Freunde gefunden hatte und die Schule mochte, insbesondere das paramilitärische Training, in dem ich eine aktive Rolle spielte. Ich gehörte auch zur freiwilligen „Bürgerwehr”, deren Metallabzeichen ich stolz auf der Brust trug. Ich war mir sehr wohl darüber im Klaren, weshalb wir plötzlich aufbrechen mussten, doch ich bedauerte es, eine mehr oder weniger normale Kindheit hinter mir zu lassen. Vater kannte die Gegend und die Leute von Dorohoi gut, da er vor dem Krieg mit ihnen Handel getrieben hatte. Die Juden von dort, die mit uns zusammen in Moghilev waren, hatten schon ein Jahr vor uns nach Hause zurückkehren können, und wir freuten uns darauf, unsere Freunde wieder zu sehen. Wir hofften, dass sie uns dabei helfen würden, uns vorübergehend in Rumänien niederzulassen…


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Dorohoi – der erste Aufenthalt in Rumänien

Wir wurden auch nicht enttäuscht. Man empfing uns freundlich; ich fand sogar einige Freunde aus der Zeit im Ghetto wieder. Wir bekamen ein kleines Zimmer (eigentlich einen Balkon) bei einer Familie von Vaters Freunden.

Meine Schwester reiste sofort nach Yassi, der Hauptstadt und größten Stadt Moldawiens, um ihr Studium fortzusetzen. Vater ging nach Bukarest, um Arbeit zu suchen. Im Gegensatz zu seiner Philosophie 1941, die sich jedoch als Irrtum erwiesen hatte, nämlich, uns so weit wie möglich in Richtung des Bug zu bringen, war dies nun die richtige Taktik. Unser Ziel war es, nicht in Rumänien zu bleiben, sondern alles zu versuchen, um nach Palästina zu gelangen. Mein Vater traute den Rumänen nicht mehr als den Russen, angesichts der Tatsache, dass die Sowjetarmee als „Befreiungsarmee” buchstäblich alles besetzte und kontrollierte.

David, mein Bruder, der der Armee, als diese 1944 in Moghilev einmarschierte, freiwillig beigetreten war, war immer noch beim Heer, irgendwo in Rumänien. Wir kannten nur seinen Armeebriefkasten. Wir nahmen von einer Korrespondenz mit ihm jedoch Abstand, um ihn nicht zu gefährden. Nicht nur während des Krieges war die Zensur sehr aktiv, danach war sie noch sehr viel strenger.

Mutter und ich blieben allein auf dem Balkon zurück, den wir in ein „Familiendomizil” verwandelt hatten. Ich weiß nicht, was der Grund dafür war, doch ein paar Tage nach meiner Ankunft war mein Körper plötzlich mit einem schrecklichen Ausschlag (Krätze) und Furunkeln bedeckt. Zwei Phänomene, die getrennt schlimm genug sind, aber zusammen unerträglich waren.

Der Arzt, Dr. Danilov, verlässlich und wohlbekannt aus der Zeit in Moghilev, lebte und arbeitete nun in Dorohoi. Er behandelte mich, doch es war hauptsächlich meine Mutter, die sich um mich kümmerte, die mich mehrmals am Tag wusch und mit einer stinkenden Schwefelsalbe einrieb; die mich umhegte, wie es nur eine Mutter kann, und die durch die Furunkeln hervorgerufenen offenen Schwären behandelte. Erst nach mehreren Wochen war ich von den beiden „Andenken” befreit, die ich aus der Sowjetunion mitgebracht hatte. Ich litt furchtbar und machte meiner Mutter mit Klagen darüber, dass man mich aus der Sowjetunion weggeholt hatte, das Leben zur Hölle.

Nach den Jahren des Herumwanderns und der Deportation hatte ich endlich meinen Platz gefunden. Ich war glücklich, hatte Freunde und Position, ging zur Schule usw…

Meine Beschwerden waren bitter und machten Mutter viel Kummer, den sie nicht verdiente. Sie verdiente vielmehr Wertschätzung und Verständnis, doch obgleich ich über die Erfahrungen eines Erwachsenen verfügte, war ich „nur” ein Teenager von fünfzehn Jahren.

Nachdem wir eine Woche auf dem Balkon gewohnt hatten, wollte Mutter der Familie, die uns bei sich aufgenommen hatte, nicht länger zur Last fallen und suchte und fand eine Zweizimmerwohnung in einem entlegenen Stadtteil von Dorohoi, in einer völlig nichtjüdischen Umgebung. Das war alles, was wir uns leisten konnten. Der Hauptgrund war ich, da ich mit meinem schrecklichen Gestank die Luft so verpestete, dass man sich nicht zu atmen traute. Es war sehr rücksichtsvoll von ihr, und unsere Gastgeber nötigten uns nicht zum Bleiben.

Wir hatten keinen Kontakt mit Vater. Wir bekamen keine Post mehr von ihm, weil er unsere neue Adresse nicht kannte, und wir konnten ihm aus demselben Grunde nicht schreiben.

Meine Freunde aus dem Ghetto, die seit ihrer frühen Rückführung aus Transnistrien in Dorohoi lebten, begannen mich einzuladen. Sie schienen sich gut eingelebt zu haben und sie beherrschten die rumänische Sprache einigermaßen, während ich sie erst von Grund auf lernen musste.

Sie waren gekleidet wie Kinder, und ich in meinen Stiefeln, weiten Hosen und mit Militärhemd sah fast wie ein russischer Soldat aus. Die wirtschaftliche Lage meiner Freunde hatte sich stabilisiert, und sie waren sozial voll eingegliedert. Sie waren sehr aktive Mitglieder von Ha-No'ar Ha-Zioni (Zionistische Jugend). Ich war entwurzelt, hatte Schwierigkeiten mit der Sprache, litt an meinen Wunden und hatte allen Grund, mich minderwertig zu fühlen. Doch dank des Verständnisses und der Unterstützung meiner Freunde konnte ich mich ohne allzu viele Probleme einfügen. Ich bin diesen Freunden immer dankbar, die mich aufnahmen und meine Integration in ihre lebendige Gesellschaft auf jede nur mögliche Weise unterstützten. Sie luden mich in ihr Ken, das „Nest” der Jugendorganisation zu einem Treffen ein, und zu meiner Überraschung konnte ich mich an die Hebräischen Lieder erinnern, die ich in den Klassen der jüdischen Grundschule gelernt hatte. Ich erinnerte mich sogar an ein paar Hebräische Sätze, was meine Freunde tief beeindruckte und mein Selbstvertrauen stärkte. Bald war ich auch in der zionistischen Jugendbewegung „in”. Ich tanzte und ließ keine Gelegenheit aus, russische Lieder solo zu singen, was ich wirklich gern tat.

Langsam aber sicher gewöhnte ich mich an den Ort und die Freunde und stellte meine Beschwerden, Mutterland und „Geburtsstätte” entrissen worden zu sein, allmählich ein. Die meiste Zeit verbrachte ich mit dem Chor der Gruppe. Wir gingen zu Hochzeiten, um zum Keren Kayemet (dem Jüdischen Nationalfonds) beizutragen. Wir waren in verschiedenen Komitees im Zusammenhang mit Eretz-Israel. Während einer unserer Auftritte spielte ich einen Araber in traditioneller Tracht, den Mufti von Jerusalem. Meine zionistische Erziehung war damals sehr lückenhaft, da sie erst 1945 mit meiner Ankunft in Rumänien begonnen hatte.


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Bukarest

Mein Vater schickte uns eine Nachricht, dass wir nach Bukarest kommen sollten. Er erwähnte nicht, wie; er wusste, dass wir mit unserer Erfahrung schon einen Weg finden würden. Wie ich bereits früher erwähnt hatte, war es unser Ziel, nicht in Rumänien zu bleiben; vielmehr hatten wir vor, nach Palästina zu gehen, und Bukarest war diesem Ziel näher und gab uns mehr Gelegenheit, Hilfe beim Erreichen von Eretz-Israel zu finden. Wir nahmen den Zug, wieder einen Güterzug, und kamen nach zwei Tagen in Bukarest an.

Wir brachten unsere wenigen Habseligkeiten in eine Mansardenwohnung in der Labyrinth-Straße. Die Wohnung war in Wirklichkeit ein kleines Zimmer, das den gesamten Dachraum ausfüllte. In Bukarest fielen wir wieder unseren alten Freunden, den Wanzen, zum Opfer, gegen die wir einen genauso verzweifelten Kampf ausfochten wie in all unseren Jahren im Ghetto.

Vater machte sich auf dem Schwarzen Markt einen Namen. Er fungierte als Geldwechsler und handelte mit Devisen und Gold. Er hatte weder Büro noch Stand. Es war eine mobile und verdeckte Operation, und illegal zu sein, war gefährlich. Von Zeit zu Zeit betätigte er sich auch als Makler, und wir hatten den Eindruck, dass wir auf jeden Fall nicht Hungers sterben würden.

Für mich war dieser Umzug immer noch Teil unser Wanderungen, die mit der sowjetischen Besatzung 1940 begonnen hatten. Wieder ließ ich meine Freunde zurück. Wieder eine neue Umgebung, diesmal eine Großstadt, die Hauptstadt von Rumänien. Dies war meine erste Begegnung mit dem Leben in der Großstadt, die gegenüber der Kleinstadt viele Vorteile hat, aber auch ihre Nachteile. Bukarest, einst „Klein Paris” genannt, war eine große Stadt mit breiten Boulevards, großen Parks, einem imposanten Opernhaus, dem majestätischen Königspalast, der Universität und der Polytechnischen Akademie sowie anderen stattlichen Gebäuden für die Organe der Demokratie wie z. B. das Parlament, der Senat, das Gericht usw…

Der Transport per Tram, Straßenbahn oder Autobus war effizient und preiswert. Mehr als fünfzig Kinos zeigten Filme aus Amerika, Frankreich, England, Italien und Ungarn, von 10 Uhr morgens bis Mitternacht.


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Zurück zur Schule in der „Cultura”

Meine Schwester bestand darauf, dass ich weiterhin zur Schule gehen sollte. Sie ist dafür verantwortlich, dass ich überhaupt über soviel Bildung verfüge, wie ich habe. Sie vernachlässigte mich weder in Ghetto noch in Rumänien. Sie bat ihre in Bukarest lebenden Freunde, mir beim Studium zu helfen. Die Geschichte meiner Bildung ist sehr bunt. Vier Jahre Grundschule mit Hebräisch und Rumänisch als Fremdsprache. Mit dem Einmarsch der Russen nach Bessarabien, als wir gezwungen waren, nach Boian in der Ukraine zu gehen, war ich in der vierten Klasse und lernte Ukrainisch und Russisch als Fremdsprache. Auf drei Jahre ohne formelle Schulbildung folgte die siebte Klasse, wieder auf ukrainisch, als ich meinem Alter gemäß hätte in der neunten Klasse sein sollen; doch mein Bildungsgrad wurde den Anforderungen des rumänischen Gymnasiums für die zehnte Klasse kaum gerecht, denn dann hätte ich die rumänische Sprache, Geografie, Mathematik, Französisch, Geschichte und Latein gründlich beherrschen müssen, wovon ich in den vergangenen Jahren gar nichts gelernt hatte.

Ich erhielt Unterricht in Französisch, Rumänisch und Latein bei Biba Vartikowski, der Freundin meiner Schwester, durch die ich einen Bildungsstand erreichte, der es mir erlaubte, in die vierte Klasse des Gymnasiums aufgenommen zu werden, also in das achte Schuljahr.

Ich war älter und größer als die meisten Schüler, von denen fast alle während des Krieges ungestört weiter zur Schule gegangen waren. Ich nahm mein Studium sehr ernst, und obwohl ich meinem Vater bei seinen Schwarzmarktgeschäften half, gewöhnlich als harmloser Kurier von Diebesgut und Hehlergeld, zwang ich mich zum Lernen. Ich war ein eifriger und erfolgreicher Schüler. Ich trug den vorgeschrieben Gymnasiastenhut mit großem Stolz. Am Ende des Schuljahres legte ich außerdem das Examen für die Oberschule ab und erhielt eine besondere Belobigung für mein Latein. Das war eine echte Sensation. Wie es der Zufall wollte, konnte ich nämlich den Textteil, den wir übersetzen mussten, auswendig. Es war das Kapitel von den dreihundert Soldaten des Leonidas, die die Thermopylen überquerten.

Dieses Mal verdiente ich es, versetzt zu werden, und ich ging als regulärer Schüler in dieselbe Schule mit demselben Tarbut-System, aber nicht in hebräischer Sprache. Auf Rumänisch wurde die Schule in der Straße des Heiligen Jonah Cultura genannt (Sfantul Jon Nou). Ein weiterer Schüler in meinem Alter, der auch ein paar Schuljahre versäumt hatte, kam in meine Klasse; wir beschlossen, uns gemeinsam an einer anderen Oberschule als externe Schüler der zehnten Klasse zu bewerben (insgesamt das zwölfte Schuljahr) und parallel dazu die neunte Klasse der Cultura zu besuchen.

Die Rumänen begegneten Menschen wie mir, die als „wieder Eingebürgerte” betrachtet wurden, mit viel Geduld und Verständnis. Sie machten es uns leicht und waren sehr flexibel (mehr als einmal musste ich dagegen an die Schwierigkeiten denken, denen Neueinwanderer nach Israel ausgesetzt sind.) Wir lernten zusammen an einer anderen Schule und bereiteten unsere Lektionen gemeinsam vor. Soweit ich mich erinnere, legte mein Freund auch das Examen ab. Ich selbst wählte einen anderen Weg, der aus folgender Episode in der Schule resultierte.

Eines Tages besuchte uns ein Schaliach (ein Abgesandter) aus Eretz-Israel, oder vielleicht war es auch einer der Zionistenführer, der gerade in Bukarest war und der Schule einen außerplanmäßigen Besuch abstattete. Er erklärte die Bedeutung jüdischer Einwanderung für Israel, besonders im Hinblick darauf, was in Europa geschehen war. Er beschrieb, was sich in den Konzentrationslagern von Auschwitz, Buchenwald, Birkenau, Treblinka und anderen abgespielt hatte. Ich wusste nur wenig darüber, obwohl ich Menschen in gestreiften Pyjamas mit geschorenen Köpfen begegnet war, die zur Rekonvaleszenz und Stärkung nach Chernowitz gebracht worden waren. Meine Eltern und alle anderen Familienmitglieder sprachen mit ihnen und hörten von den Menschenrechtsverletzungen. Ich wusste nicht, oder hatte vielleicht noch nicht richtig verstanden, was wirklich geschehen war, bis der Schaliach in die Schule kam.

Er schlug vor, dass jeder, der eine Aliya beabsichtigte, einer der zionistischen Jugendgruppen beitreten sollte, am besten einer der zionistischen Pioniergruppen. Obwohl ich die Schule sehr ernst nahm und inzwischen wirklich mochte und genoss, nahm der Gedanke, durch eine Aliya etwas für das Land Israel zu tun und seinen Verteidigungskräften beizutreten, einen vorrangigen Platz in meinem Bewusstsein ein.

Ich erzählte meinen Eltern, was ich vorhatte, und sie waren erstaunt. Sie wollten, dass ich meine Ausbildung weiterführte und versuchten, mich zu überreden, meine Aliya-Ideen bis nach der Schule zu verschieben. Immer wieder erklärten sie mir die Wichtigkeit von Schulbildung im Allgemeinen und im Besonderen, da ich in den Kriegsjahren durch unsere Vertreibung und Wanderungen so vieles versäumt hatte. Doch am Ende gaben sie angesichts meines kompromisslosen Wunsches nach.

Sie nähten einen Rucksack für mich (den ich noch heute habe), und ich trat der zionistischen Jugendgruppe „Ha-Ratzon” („Wunsch und Wille”) in Brashov bei. Der eigentliche Abschied war sehr schwer. Meine Schwester war nicht mehr zu Hause, sie war verheiratet mit dem Mann, den sie im Ghetto getroffen hatte.

Mein Bruder war aus der Roten Armee desertiert, um durch eine Aliya einen Beitrag für Eretz-Israel zu leisten, und ich, der Kleine, ging nun auch. Es war sehr traurig, und wieder einmal lud ich meiner Mutter, die immer schweigend litt und ihre Tränen innerlich weinte, unnötig schweren Kummer auf.

Bevor ich versuchen will, mein „Kibbuzleben” kurz zu beschreiben, werde ich von der Zeit in Bukarest erzählen. Wir blieben nicht sehr lange in der Wohnung in der Labyrinth-Straße. Die Lebensbedingungen dort während des Sommers waren sehr schwierig. Wie in Europa üblich, war das Dach mit Zink oder Kupfer beschlagen. Im Sommer absorbierte dies soviel Hitze, das man sich unmöglich in dem Raum aufhalten konnte. Die Gegend um die Labyrinth-Straße war weitgehend von Juden bewohnt.

Es war kein Ghetto, aber es gab doch eine hohe Konzentration von Juden in der Gegend. Es gab Synagogen, Clubräume für meine Jugendgruppe und die anderen zionistischen Jugendgruppen. Sogar der Rotlichtbezirk, „Crucea de Piatra”, war zu Fuß leicht zu erreichen.

Meine Beziehungen zu den russischen Soldaten waren immer noch rege. Sie wanderten in den Straßen umher und ich sprach mit ihnen in ihrer Sprache. Man konnte sich leicht mit ihnen anfreunden, und mit ihrer Hilfe konnte ich mit der örtlichen Bevölkerung Handel treiben. Ich arbeitete als Fremdenführer und Dolmetscher und kaufte ihnen dabei überschüssige Waren ab. So kaufte ich z. B. Autoreifen, nach denen rege Nachfrage herrschte, und verkaufte diese für einen schönen Profit.

Ich kaufte mir einen richtigen Anzug, der an meinem immer noch wachsenden Körper recht gut saß. Der Anzug war so modisch, dass mein Schwager ihn trug, als er meine Schwester heiratete. Obwohl ich ganz gut Russisch konnte, kaufte ich einmal ein Schaf von einem russischen Offizier in der Meinung, ein Schwein gekauft zu haben. Erst als er mir das Schaf gab, bemerkte ich meinen Irrtum. Niemand wollte es mir abkaufen, daher beschloss ich, es auf dem Dach zu schlachten. Ich verkaufte das Fleisch und das Fell getrennt.

Wir gaben uns mit den Innereien zufrieden, genau wie mein Großvater, der rituelle Schlachter, der mit den Innereien der Schlachttiere bezahlt worden war. In dieser Zeit war ich nicht nur Kaufmann und Dolmetscher, sondern auch Fremdenführer durch den berühmten Rotlichtbezirk.

Da wir so unzufrieden mit der Mansardenwohnung in der Labyrinth-Straße waren, fand mein Vater ein Zimmer in der Doamneistraße.

Das Zimmer lag in einem sehr teuren, eleganten, zentral gelegenen Stadtteil. Die Straße zog sich von der Akademiestraße an einem Ende bis zur Calea Victoriei am anderen Ende. Der Königspalast, die Philharmonie, das Nationaltheater, die größten Geschäfte (Galerie Lafayette und SORA) lagen entlang dieses schönen Boulevards.

Eine Reihe großer Banken, darunter die Nationalbank, standen unserem Haus gegenüber. Fünf Fußminuten entfernt lag eine andere elegante Straße, eine Promenade, die Lipscani. Das Zimmer befand sich im dritten Stock eines vierstöckigen Hauses, das einen Aufzug hatte.

Ein Teil bestand aus Büroräumen und Geschäften und ein Teil aus Wohnungen. Das Zimmer gehörte einer Jüdin, die in ihrer Jugend sehr schön gewesen war. Sie kam aus einer sehr reichen russischen Familie, doch sie hatte ihr Geld nicht halten können. Nachdem sie alle ihre Habe weggegeben oder verloren hatte, musste sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, wurde die Geliebte sehr reicher Männer und auch hoher Regierungsbeamter. Am Ende hatte sie immer weniger Kunden, und um nicht zu verhungern, vermietete sie einen Teil ihres Zimmers an uns.

In dem Zimmer standen vier Betten, ein Tisch und ein Schrank, mit dem der Wohnbereich von Küche und Waschbereich abgetrennt wurde. Die Toilette wurde von allen im dritten Stock gemeinsam benutzt. Trotz dieser Umstände waren wir sehr froh, dass wir aus der Wohnung in der Labyrinth-Straße hatten wegziehen konnten.

Bis zu meiner Ankunft in Bukarest hatte ich vielleicht acht oder zehn Filme gesehen. Bis wir nach Boian zurückkehrten, hatte ich vielleicht sechs gesehen, wovon einer mich wirklich beeindruckte. Es war ein russischer Film mit dem Titel „Der Zirkus.” In Bukarest stillte ich mein Verlangen nach Filmen. Die Großstadt hatte mindestens fünfzig Kinos, wovon der Großteil von morgens an ohne Unterbrechung Filme zeigte. Man konnte morgens hingehen und den ganzen Tag lang Filme sehen. Einige der Kinos hatten zwischen den Filmen Pausen, in denen Live-Unterhaltung stattfand. Das Kino wurde für mich bald wichtiger als das Essen. Ich verschlang Filme in großen Mengen und lernte daraus Dinge über das Leben, die Welt, und sogar ein bisschen Englisch. In Bukarest sah ich auch Stücke am Jiddischen Theater „Barasheum.”

Im rumänischen Theater sah ich sehr gute Stücke und sogar eines, das ich nicht verstand, das von Eugene O'Neill war („Trauer muss Elektra tragen”). Nicht weit von unserer Wohnung gab es ein Theater, in dem hauptsächlich Operetten aufgeführt wurden. Ich sah sie alle, und einige davon sogar zweimal, denn der Kartenverkäufer war mein Freund und wir schwatzten oft, wenn es keine Vorstellungen gab. Ich sah den „Zigeunerbaron”, „Gräfin Maritza” (je mindestens dreimal) mit den ungarischen Schauspielern Oscar Denesh und Rosie Barshoni. Normalerweise zog ich französische Filme mit Jean Gabin, Louis Jouvet, Pierre Brasseur, Jean Marais, Vivianne Romance und anderen vor.

Ich mochte italienische Filme mit Allida Valli und Amadeo Nazzari, oder ungarische Filme mit Yavor Pal und Kathaleen Karady und anderen.

Da die meisten Filme von der riesigen amerikanischen Filmindustrie gemacht wurden, kannte ich die Schauspieler natürlich bald so gut, dass ich sofort voraussagen konnte, wer in welchem Film mitspielen würde, sobald ich das Buch gelesen hatte.

Ich las Bücher mit nicht weniger Gier, als ich mir Filme ansah. Ich verschlang Bücher, insbesondere historische Romane. Die Oper war ein völlig neues Erlebnis für mich. Kendler, einer meiner Freunde, mit dem ich mich auf den Unterricht vorbereitete, liebte die Oper und hörte häufig Opernmusik und klassische Musik. Die Familie Kendler hatte eine ganze Sammlung dieser Musik und ein gutes Grammophon. Für mich war diese Musik neu und aufregend.

Einmal nahm er mich mit, als er Opernkarten kaufte. Die Schlange war sehr lang, und wir standen stundenlang herum, bevor wir den Kartenschalter erreichten. Ich kaufte ebenfalls Karten für alle Vorstellungen der folgenden Woche. Ich verkaufte einige davon weiter und besuchte die restlichen Vorstellungen, die sich nun amortisiert hatten, und eine neue Welt tat sich mir auf. Ich war ungeheuer beeindruckt und überredete meine Mutter, mitzukommen, und mit der Zeit sah sie eine Reihe von Aufführung, die ihr große Freude machten. Unter den Opern, die ich in Bukarest sah, waren „Der Barbier von Sevilla”, „Carmen”, „La Traviata”, „La Bohème” und „Lakme” (von Leo Delibes). Ich sah auch „Manon Lescaut”, „Lucia da Lammermoor” und das Erevan-Ballett und einer Reihe von wunderbaren Aufführungen.

Ich durchwanderte die ganze Stadt; die schönen Parks, Carol und Cismigiu. Ich besuchte das Ausstellungsgelände und den Kisselev Boulevard… Der öffentliche Transport in Bukarest war einfach, schnell und billig. Die elektrische Straßenbahn kam fast überall hin und war sehr effizient. Im Sommer schwamm ich sogar in dem riesigen öffentlichen Schwimmbad. Ein paar Klassenkameraden und ich stellten eine Volleyballmannschaft auf die Beine. Einer der Schüler hatte Zugang zu einem leeren Grundstück, das ein wunderbares Spielfeld abgab. Wir konnten jedoch nur ein paar Spiele spielen, denn die Organisation war sehr kompliziert, und das Spielfeld lag für uns alle eigentlich zu weit weg. In Bukarest hatte ich auch die Gelegenheit, zwei ausgezeichnete Tanz- und Gesangsensembles zu sehen, die Igor-Moseiev-Gruppe und die der Roten Armee. Diese beiden Vorstellungen beeindruckten mich auf das Äußerste.

Der Chor der Roten Armee – ihre Lieder und wunderbaren Stimmen an jenen Abenden sind mir bis heute unauslöschlich im Gedächtnis geblieben.

Jean Kendler, mein Schulkamerad, hatte einen großen Einfluss auf mich und meine kulturelle Bildung. Sein Vater arbeitete für die größte Zeitung, „Scanteia” („Der Funke”).

Die Zeitung war das offizielle Organ der herrschenden politischen Partei, der Kommunistischen Partei. Die Mitarbeiter der Zeitung machten einmal eine mehrtägige Reise mit einem Sonderzug. Jean und ich wurden von seinem Vater eingeladen, mitzukommen. Er war anscheinend ein Mitglied des Direktoriums der Zeitung.

Der Ausflug ging in die Nähe der jugoslawischen Grenze an die engste Stelle der Donau, wo diese zwischen Rumänien und Jugoslawien verlief. Während der Reise hielten wir häufig an, um die Aussicht zu genießen, und besuchten einmal auch eine kleine Insel namens Ah-De-Kaleh mitten in der Donau. Die Insel war ein zollfreies Gebiet und ich kaufte das spezielle Produkt dort, eine Flasche Rum. Als ich die Flasche kaufte, hatte ich noch keine Ahnung, dass sie das einzige alkoholische Getränk auf der Hochzeit meiner Schwester sein würde.

Als Dvora und Yusiu beschlossen, zu heiraten, willigten unsere Nachbarn ein, die Verbindungstür zwischen unseren Wohnungen zu öffnen, sodass wir eine sehr bescheidene Hochzeit feiern konnten. Mein zukünftiger Schwager trug meinen Anzug, und sie wurden mit meinem Rum gesegnet.

Mein Bruder David diente in der Logistikabteilung der Armee, die mit Nachschub und Ausrüstung zu tun hatte. Diese Güter wurden in Wahrheit als Anzahlung auf die „Reparationen” betrachtet, die die Rumänen den Russen zugesagt hatten. David lebte in einem Hotel, dass die Russen beschlagnahmt hatten, um die Soldaten und Offiziere, die in der Gegend dienten, dort unterzubringen. Auch er lud mich auf einen seiner Ausflüge an die bulgarische Grenze ein. Ich genoss es, mit ihm zusammen zu sein und einen anderen Teil des Landes kennen zu lernen. Wir hielten oft an, um die Aussicht zu genießen. Ich genoss den Ausflug und Davids Freundschaft. Ich war stolz, sein Bruder zu sein.

Vater gab mir den Auftrag, mit dem Zug zur Hafenstadt Costanza zu fahren und ein Paket und Geld an einen (jüdischen) russischen Offizier abzuliefern, mit dem er auf dem Schwarzmarkt Handel trieb. Die Sachen waren für noch lebende Familienmitglieder, die in der Sowjetunion lebten.

Wir wussten, dass mein Großvater und meine Großmutter irgendwo in Sibirien noch am Leben waren. Als ich in Costanza ankam, sah ich zum ersten Mal das Meer; ich sah das Schwarze Meer. Von dem Winkel aus, in dem ich es zuerst sah, verstand ich eigentlich nicht, wieso es nicht einfach über uns herüberschwappte, denn es sah aus, als ob es nichts anders tun konnte. Erst nach ein paar Minuten, in denen ich das Meer auch aus anderen Winkeln sah, konnte ich mich entspannen und glauben, dass alles in Ordnung war.

Ich machte noch eine Reise in nördliche Richtung. Ich fuhr die Familie Coifman besuchen (Frau Coifman hatte mir das Seifemachen „beigebracht”). Sie hielten sich in Yassi auf, im Hause ihrer Brüder, die die Voraussicht und das Glück gehabt hatten, schon vor dem Krieg nach Eretz-Israel einzuwandern. Sie übernahmen die Führung der Textilfabrik, die ihre Brüder hinterlassen hatten. Ihr ältester Sohn Monia, der später Seemann in Pal-Yam war, war in der revisionistischen Beitar-Jugendgruppe und machte Hachschara (Vorbereitungstraining) in Bukarest. Nur sein Bruder Moritz und seine jüngere Schwester Sonia lebten noch zu Hause.

Moritz, der älter war als ich, kümmerte sich um mich. Er führte mich in das Sexualleben ein. Man gab mir fantasievolle Anweisungen und es gelang mir irgendwie, die erste vollständige „Feuerprobe” zu bestehen.

In Yassi begegnete ich auch meiner Freundin aus Kindergarten und Grundschule, Pupa Weintraub, wieder. Sie war wirklich attraktiv und wir galten als das ideale Paar, sogar damals in Lipcani. Ich erinnere mich, dass wir, obwohl unsere Häuser nicht weit auseinander lagen, oft telefonierten, weil sie und wir zu den ersten gehörten, die Telefon hatten.

Wir ließen uns zusammen fotografieren und verbrachten ein paar Tage zusammen. Dann musste ich nach Bukarest zurückkehren. Mein Bruder begann, sich in der russischen Armee sehr unwohl zu fühlen, und es bestand die Gefahr, dass man ihn versetzte, vielleicht sogar in die Sowjetunion.

Er hatte keine Wahl, als zu desertieren, und so tat er es. Er zog seine Uniform aus, ließ sich einen Schnurrbart wachsen, besorgte sich eine neue Identität und wartete auf eine Gelegenheit, nach Eretz-Israel zu gehen. Shaike (Trachtenberg) Dan, einer der Fallschirmjäger, der vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges über Rumänien abgesprungen war (er war in unserer Stadt geboren), arbeitete damals als Schaliach für die Aliya-Organisation von Rumänien und den anderen Balkanländern. Wir fanden einen Weg, ihn zu erreichen, und er arrangierte die Flucht meines Bruders nach Jugoslawien und von dort aus auf das Schiff HAGANAH, das nach Eretz-Israel fuhr, wo er von der britischen Armee gefangen genommen und in das Kriegsgefangenenlager in Atlit gebracht wurde.

Mein Onkel Zunia war in der Arbeiterarmee bei Moskau. Dort hatte er furchtbar zu leiden. Aus Angst vor der Zensur konnte er uns seinen wahren Zustand in seinen Briefen nicht schildern; daher schrieb er, dass er eifersüchtig war auf den Sohn von Martian, unserem Nachbarn aus unserem Heimatdorf. Der „Sohn”, auf den er sich bezog, war in Wirklichkeit Martians Hund, und dieser kurze Satz beschrieb seine wahre Situation ausführlich.

Aufgrund der Revolution, die sich in Rumänien abspielte, dem Abbruch des Kontakts zu den Nazis, dem Vertag mit den Sowjets, wurde von den Regierungen beschlossen, die Kriegsgefangenen zurückzuführen, die sich noch in der Sowjetunion befanden. Teile der Gefangenen waren bereits als Angehörige von Aktionseinheiten zurückgekehrt, die sich noch in der Sowjetunion in zwei Divisionen aufgeteilt hatten: die „Tudo Vladimirescu” und die „Hria Clashca Si Crishan”-Divisionen, die nach den historischen Revolutionen Rumäniens benannt waren.

Es gelang Onkel Zunia, in die Liste der Kriegsgefangenen aufgenommen zu werden, und zusammen mit ihnen kam er auf dem Bahnhof von Bukarest an. Wir warteten dort auf ihn und waren sehr froh, als wir ihn endlich gefunden hatten. Natürlich blieb er bei uns. Nun schlief außer Vater, Mutter, Matilda (der Vermieterin) und mir auch noch Zunia in dem Zimmer.

Trotz ihres Berufes war Matilda eine wunderbare, warmherzige Person. Sie hatte kein Problem mit der gelegentlichen Überfüllung, sie machte unseren Bereich größer und ihren kleiner, trotz der Ungelegenheiten, die ihr das bereitete. Zunias Zustand war noch schlimmer, als er es in seinen Briefen beschrieben hatte, wo er sich als eifersüchtig auf seinen Nachbarshund bezeichnet hatte. Er war immer dünn gewesen, doch nun war er nur noch Haut und Knochen. Er trug einen Baumwollanzug, dessen Farbe schon seit langer Zeit nicht mehr zu erkennen gewesen war. Er war bedeckt von Läusen. Wir verbrannten seine Kleidung und schrubbten seine Haut, bis das Blut floss. All das geschah in einer kleinen Ecke hinter dem Schrank, der den Wohnbereich von Küche und Waschbereich trennte. Zunia war Junggeselle und ein Mann von Prinzipien. Er hatte eine bittere Seele und am meisten glich ihm, wenn ich es recht bedenke, die jüdische Romanfigur „Buntze Shweig.”

Zunia war der schwächere eines Zwillingspaares gewesen, doch der andere Zwilling war schon nach acht Tagen gestorben. Er arbeitete sehr schwer im Haus meines Großvaters bei der Mühle. Er war niemals verwöhnt worden, denn er hatte einen jüngeren Bruder, Shimon, der zusammen mit einer Schwester, die den Eltern spät geboren wurde, alle Aufmerksamkeit und Sorgfalt bekam. Sie wurden an die Universität geschickt, nach Frankreich und nach Bukarest, und Zunia musste zu Hause bleiben und arbeiten, um seinem Bruder und seiner Schwester Geld schicken zu können. Das grausame Schicksal verfolgte ihn sein Leben lang, bis er in der Pariser Metro einen einsamen Tod starb und in einem Massengrab auf einem gemischten Friedhof beerdigt wurde.

Während er in Bukarest war, suchte Zunia weder Arbeit, noch fand er sie. Als er sich durch die Fürsorge meiner Mutter wieder einigermaßen erholt hatte, ging er meinem Bruder nach, doch er landete am Ende in Italien.

Er wartete in einem jüdischen Lager auf die Chance, nach Eretz-Israel zu gehen, doch das Benehmen eines der Agentur-Angestellten gefiel ihm nicht, und so beschloss er, doch nicht nach Eretz-Israel zu reisen. Er „stahl sich über die Grenze” nach Frankreich, wo er von 1946 bis 1985 lebte. Dort starb er einen einsamen Tod. Er bewarb sich niemals um die Französische Staatsbürgerschaft, erhielt sie daher auch nicht und blieb „staatenlos”. Er besaß keinen Pass, nur ein Reisevisum. Er wurde geboren und starb als ein erbarmungswürdiges Objekt. Das Schicksal wollte es, dass er, ein kommunistischer Sympathisant, in der Metrostation Stalingrad starb. Welche Ironie!

Tante Batya folgte unseren Fußspuren und kam ebenfalls nach Bukarest, das sie aus der Zeit vor dem Krieg gut kannte. Dort studierte sie Buchhaltung an der Handelsakademie. Sie lebte in ihrem eigenen Zimmer und ernährte sich selbst.

Tante Dina kam später, zusammen mit jemandem, den sie offenbar aus Moghilev kannte. Dieser Mann namens Klingman heiratete sie, und sie hatten einen Sohn namens Avi, der später in den israelischen Streitkräften eine Militärlaufbahn einschlug.

Tante Olia, die Witwe von Moshe, blieb mit ihren Kindern in der Sowjetunion. Mein Cousin Avraham, der im selben Alter war wie ich, begann mit der Empfehlung meines Vaters eine Lehre als Werkzeugmacher bei einem Experten namens Glassberg, der die Ersatzteile für unsere Mühle repariert hatte.


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